Entnazifizierung in Schleswig-Holstein

Aus SPD Geschichtswerkstatt

Mit der Entnazifizierung in Schleswig-Holstein begann die britische Besatzungsmacht nach dem Ende der Naziherrschaft. In ganz Deutschland sollten die Schuldigen der Naziverbrechen bestraft, die Bevölkerung demilitarisiert und demokratisiert werden. Die Briten arbeiteten dabei mit einem Skalensystem:

I. Hauptschuldige (Kriegsverbrecher); II. Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer); III. Minderbelastete; IV. Mitläufer; V. Entlastete

Die Kategorien 3–5 (leichtere Fälle) sollten von Entnazifizierungsausschüssen entschieden werden, die die Briten 1946 aus nachweislich nicht belasteten Personen, z.B. Menschen, die Widerstand geleistet hatten, verbürgten SPD-Mitgliedern und anderen, vor Ort bildeten.

Ausgangslage

Statt - wie von den Alliierten erwartet - in die "Alpenfestung" zu fliehen, zogen sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs viele Nazigrößen über die sogenannte "Rattenlinie Nord"[1] nach Schleswig-Holstein zurück. Großadmiral Karl Dönitz, seit dem Tod Hitlers am 30. April 1945 neues Staatsoberhaupt, verlegte zwei Tage später sein Hauptquartier auf das Gelände der Marineschule Mürwik in Flensburg. Die Reichsregierung zog andere nach:

"Zum Beispiel SS-Reichsführer Heinrich Himmler, der sich mit 150 Personen seines Stabes nach Norden absetzte. In großen Mengen wurden in den letzten Kriegstagen im Flensburger Polizeipräsidium und in Mürwik falsche Papiere ausgegeben, die aus Massenmördern einfache Soldaten machten. Viele von denen, die den Alliierten nicht ins Netz gingen, fanden später Anstellung in der Verwaltung, Hochschulen und im Regierungsapparat der Kieler Landesregierung."[2]

Diese Feststellung lässt sich heute wissenschaftlich belegen. Die ersten Chefs der Kriminalpolizei in Schleswig-Holstein kamen alle aus Himmlers Amt. Falsche Papiere erhielt in Mürwik auch "der aus Kiel stammende ehemalige Gestapo-Chef von Lemberg Kurt Stawitzki, dem die Beteiligung an der Ermordung von 160 000 Juden angelastet wurde. Während die Behörden später vermuteten, Stawitzki habe Selbstmord begangen, arbeitete dieser unter dem Namen "Kurt Stein" als Registrator in der Zentrale der Deutschen Forschungsgemeinschaft".[3]

Dazu kam, dass die Bevölkerung Schleswig-Holsteins durch Flüchtlinge von 1,5 Millionen (Mai 1939) auf 2,6 Millionen (1946) anstieg. Auf vier Einheimische kamen damals drei Flüchtlinge. Bei diesen war es noch schwerer, über Schuld oder Unschuld zu entscheiden, weil oft die erforderlichen Unterlagen nicht mehr verfügbar waren.

Gesetz zur Entnazifizierung

Am 1. Oktober 1947 erließen die Briten die Verordnung 110, mit der die Entnazifizierung den Ländern übertragen wurde. In den Beratungen zum Entnazifizierungsgesetz formulierte Eugen Lechner den Anspruch der SPD:

"Wir haben als sozialdemokratische Fraktion an ein Entnazifizierungsgesetz ganz bestimmte und konkrete Forderungen zu stellen, und eine der ersten Forderungen ist, dass die Jugend, wenn sie nicht Verbrechen begangen hat, amnestiert wird. Eine weitere Forderung ist, dass die Ausschaltung und Bestrafung der wirklichen Verbrecher des Dritten Reiches vorgenommen wird. Die dritte Forderung ist die Entfernung der Aktivisten aus Ämtern in Wirtschaft und Politik und in Verbindung damit das Recht auf Überprüfung derjenigen, die von der Militärregierung schon einmal überprüft worden sind. Die weitere Forderung ist, dass den Belasteten und Nutznießern und Aktivisten eine Beschränkung auferlegt wird, auch in ihrer Wohnung, und zwar so lange, wie uns das von ihnen auferlegte Unheil dazu zwingt."[4]

Nach Verhandlungen mit der britischen Kontrollkommission wurde als Stichtag für die Jugend-Amnestie der 31. Dezember 1918 festgelegt. Alle danach Geborenen galten grundsätzlich als entlastet. [5]

Als Innenminister setzte sich Wilhelm Käber dafür ein, junge Menschen für den öffentlichen Dienst zu interessieren, damit sie den neuen, demokratischen Geist in die Verwaltungen tragen sollten.[6]

Ende der Entnazifizierung

Zur Landtagswahl 1950 traten CDU, FDP und DP als "Wahlblock" an, der gemeinsam eine Ablösung der SPD-Regierung anstrebte. Neu gegründet hatte sich als Partei der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE).

"Als "Entrechtete" wurden [beim BHE] dabei nicht nur Kriegsopfer begriffen, sondern vor allem die von Internierung und Entnazifizierung Betroffenen. Bald dominierten ehemalige SS-Angehörige in der Organisation des BHE, und an der Spitze standen drei ehemalige Angehörige des NS-Regimes [...] Nur eine Minderheit unter den BHE-Mitgliedern lehnte das NS-Regime ab, während die Mehrheit von einer "sozialen Volksgemeinschaft" ohne "Auswüchse und Übertreibungen" in einem neuen "Reich" träumte."[7]

Doch auch die CDU Schleswig-Holstein galt dem britischen Nachrichtendienst als "äußerster rechter Flügel der Partei". Die DP stand noch weiter rechts. Und sogar die FDP trat mit "Plakaten in den Farben Schwarz-Weiß-Rot und dem Symbol des Reichsadlers" an.[8]

"Nach der Bildung der ersten Regierungskoalition 1950 geriet Schleswig-Holstein erstmals als "Hort der braunen Reaktion" in die Schlagzeilen der internationalen Presse. Die Bildung dieser Koalition gestaltete sich schwierig, weil der BHE weitgehende Forderungen erhob und unter anderem die Beendigung der Entnazifizierung verlangte. Erst Anfang September 1950 konnte der Ministerpräsident Dr. Walter Bartram (CDU) gewählt werden, der vor 1945 als NSDAP-Mitglied und Wehrwirtschaftsführer hervorgetreten war. Bis auf Dr. Dr. Pagel hatten alle sechs Kabinettsmitglieder, zu denen auch die BHE-Politiker Kraft und Asbach zählten, NS-Formationen angehört. Der Neue Vorwärts sprach von einer "Koalition aus SA, SS und NSDAP"."[9]

Bereits mit der Bildung der Regierungskoalition aus CDU, FDP, DP und BHE 1950 hatte der Landtag die Entnazifizierung ausgesetzt. Im März 1951 wurde ein "Gesetz zur Beendigung der Entnazifizierung" eingebracht. Innenminister Paul Pagel (CDU) erklärte: "Der Gesetzentwurf will den [...] endgültigen Schlußstrich unter die Entnazifizierung ziehen." Der "Sonderbeauftragte für die Entnazifizierung" des Landes Schleswig-Holstein, das ehemalige NSDAP-Mitglied[10] Oskar-Hubert Dennhardt (CDU), ergänzte: "Es ist notwendig, alles das, was im Rahmen der Entnazifizierung an die Oberfläche gespült worden ist, zu beseitigen".[11]

Dagegen wies Eugen Lechner in den Ausschussberatungen "auf die Gefahr hin, daß nach Annahme dieser Vorlage gefährdete Nazis sich aus den anderen Ländern nach Schleswig-Holstein verziehen, weil hier mildere Gesetze gegen ehemalige Nazis Geltung hätten."[12] Seine Warnung war, nach allem, was heute bekannt ist, überholt - sie waren schon da.

Die SPD wäre mit der Beendigung der Entnazifizierung grundsätzlich einverstanden gewesen, allerdings nicht so, wie sie sich im Gesetzentwurf darstellte. In der konfliktreichen Debatte schlug Oppositionsführer Wilhelm Käber (SPD) sarkastisch einen weiteren Paragraphen vor mit dem Wortlaut:

"Schleswig-Holstein stellt fest, dass es in Deutschland nie einen Nationalsozialismus gegeben hat. [...] Die von 1933 bis 1945 begangenen Untaten gegen Leben und Freiheit von Millionen von Menschen sind eine böswillige Erfindung."

Durch diesen zusätzlichen Paragraphen wollte er darauf hinweisen, "was der Herr Sonderbeauftragte ja eigentlich mit dem Gesetz erreichen will, nämlich eine Art von Wiedergutmachung für ehemalige Nationalsozialisten". Dies empfände die SPD-Fraktion als beschämend, "bevor das Unrecht wieder gutgemacht ist für die von den Nationalsozialisten politisch, rassisch oder religiös verfolgten Menschen."[13]

Bei der zweiten Lesung des Gesetzes am 14. März 1951 erklärte Max Kukil: "Man rechnet damit, daß durch die Wiedereinstellung [von belasteten Personen im Gefolge des Gesetzes] andere, unbelastete Menschen morgen auf die Straße gesetzt werden. Die Praxis sieht in vielen Fällen so aus."[14] Das Gesetz wurde mit der Regierungsmehrheit verabschiedet.

Paul Pagel (CDU) – im Kabinett einziger Minister ohne NS-Vergangenheit – schrieb anschließend in sein Tagebuch: "Man kann mit Recht allmählich von einer Renazifizierung sprechen. Merkwürdig, wie selbstverständlich die alten Nazis auftreten ..."[15]

Bis 1951 durchliefen in Schleswig-Holstein ungefähr 400.000 Menschen die Ausschüsse.

"Die Entnazifizierungspraxis, über einen Fragenkatalog die individuelle Schuld bzw. Unschuld festzustellen, ist stark umstritten gewesen. In dem letztendlich gescheiterten Massenverfahren wurden bis 1951 [...] lediglich ca. 2000 in die Kategorie III eingestuft, zum Teil verbunden mit Sanktionen wie etwa Geldstrafe, Herabstufungen, Pensionskürzungen oder Entlassung. Der Rest kam in die Kategorie IV (etwa 65.000), in die Kategorie V (etwa 200.000) oder wurde als vom Gesetz nicht betroffen eingestuft (etwa 130.000). In die Kategorien I und II ist in Schleswig-Holstein wohl vermutlich niemand eingestuft worden. Sogar der ehemalige schleswig-holsteinische Gauleiter Hinrich Lohse ging aus dem Entnazifizierungsverfahren über die Kategorie III schließlich als Entlasteter hervor."[16]

Als erstes Bundesland beendete Schleswig-Holstein unter diesen Vorzeichen die Entnazifizierung.

Einzelne Fälle

Der Fall Heyde/Sawade

Einer der krassesten Fälle war Prof. Dr. Werner Heyde. Als SS-Sturmbannführer und Obergutachter im Rahmen der NS-Euthanasie war er für die Morde an über 80.000 Behinderten und Kranken verantwortlich. Nach 1945 zog er nach Flensburg und lebte dort als Gerichtsgutachter unter dem Namen Dr. Fritz Sawade.[17] Unter seinen Kollegen sprach sich seine Vergangenheit bald herum. Öffentlich wurde der Fall jedoch erst 1959, weil ein Professor sich vor Ruhestörern nicht ausreichend geschützt fühlte.[18] Auf Initiative der SPD folgte ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss, der herausfinden sollte,

  • "welche Landesbeamten vor dem 9. November 1959 gewusst haben, dass der Gutachter Dr. Sawade mit dem wegen vielfachen Mordes an Geisteskranken gesuchten Professor Heyde identisch war
  • welche Personen Heyde/Sawade vor seiner Festnahme 'direkt oder indirekt' darauf aufmerksam gemacht haben, daß sein Doppelspiel durchschaut war, und
  • wie es möglich gewesen ist, dass Professor Heyde unter dem Namen Sawade jahrelang unerkannt als Gutachter in Schleswig tätig sein konnte".[19]

Man warf der SPD daraufhin vor, die Entnazifizierung wieder eröffnen zu wollen. Oppositionsführer Wilhelm Käber entgegnete diesem Vorwurf:

"Wir Sozialdemokraten wollen keine neue Entnazifzierung. Wir Sozialdemokraten unterscheiden zwischen Schuld und Irrtum. Gegenwart und Zukunft haben nach unserer Ansicht jetzt Vorrang für unser Denken und Handeln. Daher keine erneute Entnazifizierung, sondern eine bewusste Demokratisierung des öffentlichen Lebens in allen seinen Teilen und Einrichtungen. Damit soll keineswegs ein Schutzbrief ausgestellt werden, weder für Verbrecher von gestern noch für Saboteure von heute. Wer heute noch Nationalsozialisten, die sich immerwährender [...] sittlichen und rechtlichen Grundsätzen schuldig machten, aus falsch verstandener Kameradschaft deckt, treibt Sabotage an unserer freiheitlichen Ordnung."[20]

Der Untersuchungsausschuss ermittelte, dass eine ganze Reihe von Hochschullehrern, Richtern und hohen Verwaltungsbeamten die wahre Identität von Heyde gekannt hatte. Einen richtigen Abschluss fand der Ausschuss allerdings nicht. In zwischenzeitlich eröffnete Verfahren, etwa gegen Ministerialrat Dr. Heigl und Gerichtspräsident Dr. Buresch, wollte er nicht eingreifen, verzichtete also auf diese wichtigen Zeugen. Der SPIEGEL schrieb damals:

"Für die erstaunliche Tatsache, wie eifrig die Regierung von Hassel durch die ihr treu ergebene CDU-Mehrheit im Parlamentarischen Untersuchungsausschuß zu verhindern sucht, daß Einzelheiten dieser Affäre bekanntwerden, gibt es freilich einen plausiblen Grund: Hätte Buresch vor dem Ausschuß ausgesagt, wären auch Beamte des Kieler Sozialministeriums belastet und der Kreis der mutmaßlichen Mitwisser vergrößert worden."[21]

Der Fall Reinefarth

Mit der Landtagswahl 1958 kam für den GB/BHE ein Abgeordneter in den Landtag, der für einen Skandal sorgte: Der ehemalige SS-Gruppenführer Heinz Reinefarth, genannt "Schlächter von Wola" oder "Henker von Warschau", war ab 1. August 1944 an der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes beteiligt gewesen und wurde für die Ermordung von etwa 10.000 Menschen im Stadtteil Wola verantwortlich gemacht. Nach dem Krieg wählten ihn die Sylter 1951 zum Bürgermeister - was er mehr als zehn Jahre lang blieb, obwohl die Vorwürfe bekannt waren - dann auch in den Landtag.[22] Die Aufklärungsbemühungen des Sylter Landtagsabgeordneten Ernst-Wilhelm Stojan wurden 60 Jahre lang ignoriert.[23] Zum 70. Jahrestag des Aufstandes verabschiedete der Landtag 2014 eine Resolution und bat die Opfer des Massakers um Verzeihung:

"Der Landtag bedauert zutiefst, dass es nach 1945 in Schleswig-Holstein möglich werden konnte, dass ein Kriegsverbrecher Landtagsabgeordneter wird. Er verurteilt die Gräueltaten, die sein ehemaliges Mitglied, Heinz Reinefarth, insbesondere bei der brutalen Niederschlagung des Warschauer Aufstandes begangen hat, sowie die sich hieran anschließenden menschenverachtenden Racheaktionen der Nationalsozialisten aufs Schärfste. Der Schleswig-Holsteinische Landtag bittet die Opfer der Untaten um Verzeihung."[24]

Der Fall Christiansen

Fliegergeneral Friedrich Christiansen, geboren auf Föhr, war bereits berühmt, als er sich 1933 den Nazis anschloss. Als Wehrmachtsbefehlshaber der Niederlande war er unter anderem verantwortlich für einen Vergeltungsakt der Wehrmacht, der mit Oradour oder Lidice vergleichbar ist: Für den Anschlag auf ein Wehrmachtsauto in seiner Nähe wurde der Ort Putten niedergebrannt, die männlichen Einwohner zwischen 17 und 50 deportiert, z. T. ins KZ Neuengamme bei Hamburg und seine Außenlager, darunter Husum-Schwesing und Ladelund. Weniger als 10% der Männer kehrten lebend zurück. Gleichzeitig wurde Christiansen auf Föhr zum Ehrenbürger gemacht, im Zentrum von Wyk eine Straße nach ihm benannt.

Für sein Kriegsverbrechen wurde er 1948 in den Niederlanden verurteilt, allerdings 1951 vorzeitig entlassen und kehrte an seinen Wohnort Innien (Aukrug) zurück, wo man ihn ehrenvoll empfing. Seine Verurteilung wurde als Folge seiner normalen dienstlichen Tätigkeit dargestellt. Erst 1962 wurde auf Föhr die Forderung nach Aberkennung der Ehrenbürgerwürde und Umbenennung der Straße laut. 1964 verlieh Wyk dem 84-Jährigen eine weitere Ehrung und fachte damit die Diskussion wieder an. Die SPD-Fraktion im Stadtrat beantragte eine Überprüfung und erneut die Umbenennung der Straße, konnte sich gegen die Mehrheit von CDU und KWG jedoch nicht durchsetzen; ihr wurde sogar "Rufmord" vorgeworfen.

Der Streit zog sich bis lange nach Christiansens Tod 1972 hin. 1980 engagierte sich der neue SPD-Bürgermeister Peter Schlotfeldt, als die Vorwürfe gegen Christiansen von anderer Seite neu belegt, vom langjährigen Bürgervorsteher aber mit den alten Behauptungen zurückgewiesen wurden. Im weiteren Verlauf stellte sich heraus, dass dieser Bürgervorsteher Christiansens Stab angehört hatte. In einer "bizarren" Sitzung im März lehnte die Ratsmehrheit jegliche Kritik an ihrem Volkshelden wiederum ab. Nur zwei Monate später, am 9. Mai 1980, wurde dieser Beschluss angesichts der dadurch ausgelösten Empörung revidiert, die Straße umbenannt, Christiansen postum die Ehrenbürgerwürde aberkannt.[25]

Die Justiz

"Vor allem die Justizbehörden erwiesen sich als Tummelstätte ehemaliger NS-Funktionäre. Bis zu seiner Ernennung zum Generalstaatsanwalt 1954 leitete die Staatsanwaltschaft Adolf Voss - ein Mann, dessen juristische Karriere im preußischen Justizministerium durch Förderung des späteren Präsidenten des Volksgerichtshofes, Roland Freisler, begonnen hatte. In den Augen der Militärregierung galt Voss als unbelastet. Leiter der Politischen Abteilung innerhalb der Staatsanwaltschaft war mit Dietrich Glander ein "alter Kämpfer", der 1937 als Anklagevertreter beim Schleswig-Holsteinischen Sondergericht gewirkt hatte, bevor er bis Kriegsende am NSDAP-Gaugericht Schleswig-Holstein tätig war. Kollege von Glander wiederum war Kurt Jaager, ehedem Staatsanwalt am Volksgerichtshof und Vertreter des Oberreichsanwalts.
Von den elf Sachbearbeitern hatten vier Staatsanwälte vor 1945 Funktionen beim Kieler Sondergericht innegehabt. Ganz ähnlich sah es unter den Richtern des Landgerichts aus, von denen etliche während des Krieges an Sondergerichten im Osten eingesetzt waren. Gemeinsame soziale Herkunft, beruflicher Korpsgeist und ehemalige NSDAP-Mitgliedschaft verband diese Männer zu einer verschworenen Gemeinschaft."[26]

Nicht zuletzt die Sozialgerichtsbarkeit, die als "Eldorado für NS-Juristen"[27] beschrieben wird, erweist sich als Bereich, in dem die Förderung "Alter Kameraden" Vorrang hatte vor Fachwissen und menschlicher Eignung. Der Fall Sievert Lorenzen zeigt auch, vor welche Probleme sich die amtierende Landesregierung und Justizminister Rudolf Katz gestellt sahen. Zunächst hatte der Minister die Wiedereinstellung Lorenzens, dessen Nazi-Vergangenheit ihm bekannt war, abgelehnt. Im Entnazifizierungsverfahren wurde Lorenzen 1948 trotzdem als "entlastet" eingestuft. Damit hatte er einen gesetzlichen Anspruch auf Wiedereinstellung. Allerdings hätte man ihn nach der Gesetzeslage auch als "Entlasteten" bei voller Besoldung in den Wartestand versetzen können, wenn seine Wiederverwendung als "nicht angängig" angesehen worden wäre. Es finden sich keine Belege, dass diese Möglichkeit erwogen wurde.[28] Ein Grund dafür mag in dem Umstand liegen, dass Lorenzen zu dieser Zeit bereits Mitglied der SPD war.

"Der Minister habe einem 'politisch belasteten Richter, der nach 1945 zur SPD gestoßen' sei, 'die Rückkehr in den Justizdienst ermöglichen' und diesem 'eine Chance zur Wiedereingliederung in den neuen Staat' geben wollen."[29]

Eine Überprüfung, wie weit die darin erkannte 'Läuterung' aufrichtig und von Dauer war, scheint nicht vorgesehen gewesen zu sein.

Aufarbeitung

Im September 2013 stimmte der Landtag einer parteiübergreifenden Vorlage zu[30], mit der der Landtagspräsident beauftragt wurde, eine "wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung der per­so­nel­len und struk­tu­rel­len Kontinuitäten nach 1945 in der Legislative und Exekutive unseres Landes" zu veranlassen.

Am 27. April 2016 präsentierte Prof. Uwe Danker vom Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte der Universität Flensburg (IZRG) die Ergebnisse. Sein Fazit:

"Bei allen differenzierenden Grautönen bleiben die Konturen klar: Im Maschinenraum der neuen demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung fanden Reüssieren und Integration von stark überdurchschnittlich, in diesem Ausmaß wirklich überraschend vielen ehemaligen NS‐Akteuren statt. Ein Prozess, der gesellschaftlich wie herrschaftlich offenkundig erfolgreich verlief, stabile regionale demokratische Strukturen kreierte, jedoch moralische Hypotheken produzierte, beispielsweise als "Kollateralschaden" die NS‐Opfer wieder an den gesellschaftlichen Rand verwies, die bis in die 1990er Jahre um Anerkennung ringen mussten.
Es handelte sich indes nicht um eine "Renazifizierung", wie in den 1950ern mancher meinte und seit den 1980ern auch die Perspektive der Aufarbeitung einnehmende Historiker_innen gern mal schrieben. Schleswig‐Holstein wurde nicht von Alt‐Nazis oder 'Braunen Cliquen' gesteuert, denn das hätte vorausgesetzt, dass die Akteure alte Ziele in formaldemokratischer Tarnung weiter verfolgten, etwa als Putschisten (wie die Gruppe um Achenbach in der NRW‐FDP) agiert hätten. Dafür gibt es keine Anzeichen.
Das Gesamtphänomen gehört in den Integrationsprozess der NS‐Funktionseliten in die junge Bundesrepublik. Selbst auch unsere Untersuchungsgruppe tangierende, fraglos anrüchige personelle Seilschaften und Vertuschungsnetze als extreme Verhaltensmuster zielten nicht auf eine politische Renazifizierung, sondern meinten das gesellschaftliche und berufliche Platznehmen im neu verfassten Staat.
Dass davon auch Schwerverbrecher profitierten, weil innerhalb der Funktionseliten und in besonders infizierten Berufsmilieus wie Polizei, Justiz und Wissenschaft manchmal gar keine Grenzen gezogen wurden, bleibt belastend."[31]

Die Studie und die dazu gehörenden Landtagsdokumente und -protokolle sind öffentlich zugänglich:

Im Januar 2017 erschien die Studie auch als Buch. DIE WELT bilanzierte in einer Rezension:

"Ein Viertel der untersuchten Landtagsabgeordneten, fast durchweg Sozialdemokraten, zählten im Dritten Reich zur illegalen und hoch gefährdeten Opposition. Sie waren gerade in den ersten Jahren nach 1945 deutlich überrepräsentiert im Landtag."[32]

Literatur

Links

Quellen

  1. Rattenlinie Nord, stern.de, 3.5.2005
  2. Rattenlinie Nord, stern.de, 3.5.2005
  3. Paul, Gerhard: Flensburger Kameraden, DIE ZEIT, 1.2.2001
  4. Lubowitz: Wilhelm Käber, S. ?
  5. Nationalsozialistische Gewaltherrschaft in Schleswig-Holstein, Große Anfrage Kurt Hamer (SPD) 12.06.1985 Drucksache 10/1029, Antwort Landesregierung, Kultusminister/in 13.03.1986 Drucksache 10/1433, Parlamentsdebatte dazu im Plenarprotokoll 10/73, 19.03.1986, S. 4503-4566
  6. Lubowitz: Wilhelm Käber, S. 38
  7. Das braune Schleswig-Holstein, DIE ZEIT, 26.1.1990
  8. Das braune Schleswig-Holstein, DIE ZEIT, 26.1.1990
  9. Das braune Schleswig-Holstein, DIE ZEIT, 26.1.1990
  10. Das braune Schleswig-Holstein, DIE ZEIT, 26.1.1990
  11. Alles beseitigen, DER SPIEGEL, 19.5.1969
  12. Niederschrift über die 2. Sitzung des Ausschusses für Innere Verwaltung des 4. Schleswig-Holsteinischen Landtages am 13.10.1950, zit. in Godau-Schüttke, Schlaglichter, S. 189
  13. Alle Zitate Christen: Entnazifizierung, S. 207
  14. Das braune Schleswig-Holstein, DIE ZEIT, 26.1.1990
  15. Drucksache 18/1144
  16. Schoen, Sven: Entnazifizierungsakten, schleswig-holstein.de, abgerufen 3.2.2017
  17. Godau-Schüttke: Heyde/Sawade-Affäre, S. ?
  18. Maletzke: SS-Arzt
  19. Verstummte Zeugen, DER SPIEGEL, 1.6.1960
  20. Lubowitz: Wilhelm Käber, S. 62
  21. Verstummte Zeugen, DER SPIEGEL, 1.6.1960
  22. Beschämt verneigen wir uns, taz, 30.7.2014
  23. Hrczuk: Der fürchterliche Sylter
  24. Drucksache 18/2124 - Resolution zum Warschauer Aufstand vom 1. August 1944, 7. Juli 2014 - Beschlossen 10. Juli 2014
  25. Darstellung nach Bästlein, Friedrich Christiansen
  26. Paul, Gerhard: Flensburger Kameraden, DIE ZEIT, 1.2.2001
  27. Godau-Schüttke, Streiflichter, S. 190
  28. Godau-Schüttke, Streiflichter, S. 199 f.
  29. Godau-Schüttke, Streiflichter, S. 198
  30. Drucksache 18/1144
  31. Danker/Lehmann‐Himmel/Glienke: Aufarbeitung, S. 9
  32. Kellerhoff, Sven Felix: So braun war Schleswig-Holstein nach 1945 wirklich, WELT online, 9.1.2017