Eutiner Entschließung

Aus SPD Geschichtswerkstatt

Die Eutiner Entschließung zur Deutschlandpolitik wurde auf dem außerordentlichen Landesparteitag 1966 in Eutin verabschiedet. Der damalige Landesvorsitzende Jochen Steffen rühmte sich später damit, dass diese Erklärung die Ostpolitik der SPD in Bewegung gebracht habe:

"Ohne uns überheben zu wollen: es sieht doch so aus, als habe unser Eutiner Parteitag die Sache in der SPD ins Rutschen gebracht"[1]

Allerdings beanspruchte er nie, Erfinder dieser Ostpolitik zu sein. Dies war eher Egon Bahr, der "Architekt der Ostpolitik", der seine "Tutzinger Rede" mit dem programmatischen Titel Wandel durch Annäherung bereits 1963 gehalten hatte. Das Nachdenken in der Sozialdemokratie über eine neue Ostpolitik hatte mit dem Mauerbau 1961 begonnen.[2] Bisher hatte sich allerdings kein Landesverband so eindeutig geäußert wie jetzt Schleswig-Holstein.

Entstehung

Der frisch gewählte, 43 Jahre alte Landesvorsitzende Jochen Steffen hatte bereits Anfang 1965 seine Gedanken über Sein und Schein der Ostpolitik in einem Artikel im Lübecker Morgen dargelegt. Der Landesvorstand setzte eine Kommission ein, die für einen außerordentlichen Landesparteitag eine Entschließung zur Deutschland-Politik erarbeiten sollte. Mitglieder der Kommission waren neben Jochen Steffen Frieda Bendfeldt, Jörg Balack, Jürgen Busack, Erwin Lingk, Helmut Loose und Fritz Sänger. Nach einem ersten Treffen im Walter-Damm-Haus am 2. Dezember 1965 versandte Jochen Steffen einen ersten Entwurf, der seine Handschrift trug.[3]

Die Erklärung wurde schließlich mehrheitlich von den 172 Delegierten des Landesparteitages in Eutin angenommen. Nur 19 - vor allem aus dem Kreisverband Lübeck - stimmten dagegen, weil ihnen die Entschließung nicht weit genug ging.[4] Lübeck lag damals direkt an der Zonengrenze. Einwände gab es von den Bundestagsabgeordneten Annemarie Renger und Reinhold Rehs - sie verwiesen auf die noch gültige Position der SPD aus dem Jahr 1960.[5] Reinhold Rehs, Präsident des Bundes der Vertriebenen, wechselte 1969 wegen der neuen Ostpolitik in die CDU.

Nachwirkungen

Es gab einige Resonanz auch in der überregionalen Presse, und die Entschließung musste mehrfach nachgedruckt werden, weil andere Gliederungen den Antrag übernehmen wollten. Auf dem Bundesparteitag in Dortmund spielten die Schleswig-Holsteiner mit ihrem Antrag allerdings keine große Rolle. Ihre Inhalte gingen teilweise in einem Antrag des Parteivorstandes zur Deutschlandpolitik auf, wogegen sie keinen Einspruch erhoben.

"Der Antrag der Nord-SPD war insofern erfolgreich, als sich ihre Kernforderungen in der redaktionell überarbeiteten Entschließung fast ausnahmslos wiederfanden. Die Stärke und der öffentlichkeitswirksame Effekt, der zweifelsohne von der Eutiner Entschließung ausging, sind nicht zuletzt in ihrem drastischen Sprachstil begründet. Die Schleswig-Holsteiner formulierten in einer klaren und unvermittelten Sprache drei praktische Ziele sozialdemokratischer Außenpolitik, die inhaltlich das von Bahr in Tutzing vorgestellte deutschlandpolitische Konzept unterstützten. Die in Dortmund entstandene Entschließung, die über das Thema "Wiedervereinigung" hinaus auch Gedanken zum Verhältnis zu Osteuropa, zur Sicherheit und Abrüstung, zur europäischen Zusammenarbeit und zur Partnerschaft mit Afrika, Asien und Lateinamerika umfasste, formulierte diplomatischer, sie übernahm zwar inhaltlich die Forderungen der Schleswig-Holsteiner, entschärfte jedoch den in Eutin I angeschlagenen Ton."[6]

Egon Bahr schrieb 1988 rückblickend:

"Es ist wohl keine Übertreibung, wenn unser Landesverband wie kaum ein anderer mitgeprägt hat, was man Ostpolitik der SPD nennt. [...] Im Rückblick sieht "Eutin eins" aus dem Jahre 1966 zahm aus. Was damals sensationell und aufreizend wirkte, zeigt nur die Weite des inzwischen zurückgelegten Weges, den zu weisen die schleswig-holsteinische Partei eben den Mut hatte."[7]

Er fasste zusammen:

"Das wirklich Großartige an "Eutin eins" ist, daß die drei formulierten Ziele: Kontakte zwischen den Menschen, militärische Entspannung und wirtschaftliche Zusammenarbeit im inneren Zusammenhang dieser drei Faktoren gesehen wurden. Deutsch-deutsche Sicherheit und Ost/West-übergreifende Wirtschaftsstrukturen gehören zusammen."[8]

Die Eutiner Entschließung im Wortlaut

"Die Welt steht in einer Situation des durch die Waffentechnik erzwungenen Interessenausgleichs zwischen den bisherigen Großmächten trotz bestehender scharfer Gegensätze und sich verschärfender Spannungen zwischen diesen Kräften und aufkommenden Großmächten von morgen: Das ungelöste Problem der Deutschen droht angesichts dieser universalen Tendenzen in Vergessenheit und schließlich in Hoffnungs- und Ausweglosigkeit zu versinken.
Die Positionen der jeweiligen Regierungen im gespaltenen Deutschland sind unvereinbarer denn je. Die Haltung der Bundesregierung, die sich oft ängstlich auf längst verlassene Stellungen des Kalten Krieges zurückzieht, birgt in sich die Gefahr einer außenpolitischen Isolierung. Das ostdeutsche staatliche Gebilde wird zunehmend mit dem östlichen Lager verflochten. Es gewinnt dort und in manchen Teilen der Welt an politischem Spielraum.
Nur im Westen unseres gespaltenen Landes haben wir Deutschen die Möglichkeit, in offener Diskussion die Lage unseres Volkes zu prüfen und Maßnahmen zu ihrer Verbesserung zu beschließen. Wagen wir nicht, die Unhaltbarkeit vieler unserer früheren Positionen zuzugeben, dann engen wir uns selbst diese Möglichkeiten ein. Bekundungen, man wolle die Einheit des Volkes bewahren, bleiben dann leere Deklamation.
Die Politik der westlichen Integration wurde von der CDU einmal als der angeblich einzig mögliche, aber auch einzig erfolgversprechende Weg zur Wiedervereinigung bezeichnet. Heute wagt die CDU nicht mehr, diese Behauptung aufrechtzuerhalten und beginnt, den Fehlschlag ihrer Deutschlandpolitik allmählich zuzugeben. Sie allein ist dafür verantwortlich, daß wir 20 Jahre nach dem Ende des Krieges noch immer keine gemeinsame Position für die deutsche Politik gewonnen haben. Alle Kräfte, die das Scheitern der bisherigen Politik des Abwartens nicht zugeben wollen, blockieren so ein Neubesinnen auf unsere nationale Verpflichtung und verhindern notwendige Schritte. Die zaghaften phantasie- und mutlosen Versuche der Bundesregierung in der Ostpolitik stoßen schnell an die Grenzen der eigenen starren Dogmatik und wurden stets Opfer eines internen christ-demokratischen Intrigenspiels.
In dieser traurigen Situation der deutschen Politik haben es die Kirchen übernommen, im Vorfeld der Politik die deutsch-polnischen Beziehungen zu verbessern. Sie versuchen, die Menschen und die Völker aus der gegenseitigen Verstrickung von Schuld, Leid, Mißtrauen und Haß, aus der Unvereinbarkeit von Rechts- und Besitzansprüchen zu befreien, indem sie ihren Willen zur Versöhnung und zum gegenseitigen Vergeben wachrufen. Dafür gebührt ihnen der Dank aller Deutschen, die wissen, daß wir über wachsendes menschliches Verständnis einen Weg finden müssen, der unseren östlichen Nachbarn die Angst vor einer deutschen Einigung nimmt. Den Kirchen gebührt der Dank jener, die wissen, daß wir unsere Lage erneut überdenken müssen. Sie haben durch ihren Anstoß den Zwang zu diesem neuen Durchdenken heilsam verstärkt.
Wir Sozialdemokraten wollen uns dieser Aufgabe nicht entziehen. Unter den heute weitaus schwierigeren Bedingungen der zementierten Spaltung müssen wir immer wieder den Versuch machen, über die Trümmer der erfolglosen Wiedervereinigungspolitik der Regierungsparteien - die jahrelang alle Sorgen und Warnungen demagogisch verketzert haben - neue Wege zu bahnen.
Wir müssen die Diskussion über eine "Bestandsaufnahme der Lage der Nation" vorantreiben und unsererseits eigene Vorschläge unterbreiten. Dabei muß an konkrete Fragen unserer augenblicklichen Situation angeknüpft werden. Im Zustand der völligen Orientierungslosigkeit unserer nationalen Politik einen Streit über die Ostgrenzen eines künftigen wiedervereinigten Deutschlands zu führen, ist politisch falsch und irreal. Das bedeutet nicht, daß wir einfach nicht zur Kenntnis nehmen, was auch unsere Verbündeten über diese Grenze denken. Das bedeutet ebenfalls nicht, daß wir nicht heute schon in nüchternem Vordenken die Einsicht in alle Zusammenhänge dieser Probleme klären und weiten. Aber erst im wirklichen Vollzug einer neuen Politik des gesamten deutschen Volkes kann über diese Frage mit Polen eine Einigung auf der Grundlage freier Verständigung erfolgen.
Heute muß durch die Diskussion konkreter Vorschläge der Raum für neue politische Entscheidungen geschaffen werden. Darum treten wir für folgende Ziele ein:
  1. Der Kontakt zwischen den Menschen aus beiden Teilen unseres gespaltenen Landes muß verstärkt werden.
    Zu diesem Zweck müssen unbeschadet des Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik Vereinbarungen mit den Machthabern im östlichen Teil unseres gespaltenen Vaterlandes getroffen werden. Wer solche Vereinbarungen ablehnt‚ wirkt gegen verstärkte menschliche Kontakte; er fördert die Tendenz, daß nach der politischen Spaltung auch noch die menschliche Spaltung des Volkes vertieft wird. Die Kommunisten jenseits der Elbe haben jene Menschen in ihrer Gewalt, zu denen wir die Kontakte suchen. Realitäten der Macht werden nicht durch Rechtspositionen erledigt. Rechtspositionen dürfen sich nicht gegen jene Menschen auswirken, um die es uns geht.
  2. Die westdeutsche Verteidigungspolitik und Rüstung müssen unmißverständlich deutlich werden lassen, daß sie nicht als Instrumente aggressiven Drucks gegen die Mächte des östlichen Lagers dienen sollen.
    Unter diesem Gesichtspunkt soll die Bundesrepublik positiv zu dem angestrebten Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen Stellung nehmen. Die Bundesrepublik soll nicht den physischen Besitz oder Mitbesitz von Atomwaffen anstreben. Die Bundesrepublik muß dagegen ein Vetorecht beim Einsatz atomarer Waffen ihrer Alliierten sowohl vom westdeutschen Territorium aus als auch auf Ziele im gesamtdeutschen Territorium verlangen. Sie darf nicht von der wirtschaftlichen Ausnutzung der Kernenergie abgeschnitten werden.
    Die westdeutsche Politik muß im Kontakt mit ihren Verbündeten — bei deren militärischer Anwesenheit in der Bundesrepublik und in Westberlin — eine Entspannung durch militärische Verdünnung in Mitteleuropa anstreben. Entsprechende Leistungen müssen verdeutlichen, daß die Bundesrepublik diese Lösung nicht deshalb sucht, um sich den finanziellen Konsequenzen der militärisch—politischen Partnerschaft zu entziehen.
  3. Endlich muß die Bundesrepublik jenen Plan des Bundestagsabgeordneten Jaksch konkretisieren, der eine Wirtschaftshilfe zur Verbesserung der übergreifenden Infrastruktur für Ost- und Mitteleuropa vorsieht. Zugleich muß durch eine Verstärkung des Interzonenhandels eine wesentliche gesamtdeutsche Klammer gefestigt werden.
    Auf beiden Gebieten kann die westdeutsche Politik beweisen, zu welchen Leistungen sie im Rahmen nationaler Ziele und einer konkreten Ostpolitik bereit ist. Bei unseren Partnern in der EWG muß entschieden für ein Verständnis des nationalpolitischen Hintergrundes dieser Schritte geworben werden, damit nicht durch ungerechtfertigte Behandlung dieser Fragen unsere vitalen Interessen verletzt werden.
    Diese angestrebten Ziele sind nur Anfang einer neuen deutschen Politik. Bei ihrer Verwirklichung haben wir mit unterschiedlicher Beurteilung durch unsere Verbündeten zu rechnen und müssen um ihr Verständnis politisch kämpfen. Innerhalb der Bundesrepublik werden jene Kräfte am lautesten solcher politischen Zielsetzung widersprechen, deren Politik uns in die heutige fast ausweglose Situation geführt hat. Wir fragen sie nach ihrer Alternative.
    Eine schrittweise Verwirklichung dieser Politik wird uns in eine verschärfte geistige Auseinandersetzung mit den Kommunisten führen. Wir Sozialdemokraten haben das nicht zu fürchten, wir brauchen uns unserer bisherigen Erfolge auf diesem Gebiet nicht zu schämen. Unserem Volk werden wir auch künftig helfen, in seinem langen Ringen um seine Einheit in Freiheit geistig gerüstet zu sein."

Literatur

Quellen

  1. Jochen Steffen in einem Interview mit dem IGEL, zit. bei Steiner: Eutiner Parteitag, S. 329
  2. Steiner: Eutiner Parteitag, S. 332
  3. Steiner: Eutiner Parteitag, S. 336 f.
  4. So die Erklärung von Gerhard Strack lt. Steiner: Eutiner Parteitag, S. 337
  5. Steiner: Eutiner Parteitag, S. 337
  6. Steiner: Eutiner Parteitag, S. 343 f.
  7. Bahr: Frieden, S. 589
  8. Bahr: Frieden, S. 592