Statt eines Manifestes. Kieler Fußnoten zum Juso-Selbstverständnis
Statt eines Manifestes. Kieler Fußnoten zum Juso-Selbstverständnis ist ein Grundsatzpapier der Jusos Kiel, das Anfang der 1990er Jahre verfasst wurde und bis heute die Arbeit des Kreisverbands prägt. Es wurde erstmals 1993 im Rotkielchen veröffentlicht, dann erneut 2002 und 2012 in der Jubiläumsausgabe.
Jung sind wir – sind wir auch Sozialisten?
Das Eisen ist alt, aber heiß: Kann man sich – nach 1989 und sowieso – noch guten Gewissens eine Sozialistin / einen Sozialisten nennen? Was ist das – Sozialismus? Der Kampf um den Inhalt dieses Begriffs ist so alt wie er selbst. Der heute in der SPD populärste Versuch, den Begriff mit Inhalt zu füllen, ist die These, die Grundwerte des Demokratischen Sozialismus seien Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ist aber jeder, der für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ist, deshalb ein (demokratischer) Sozialist? Und überhaupt: Kaum jemand Ernstzunehmendes ist gegen Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Man muss schon genauer hinsehen.
Man könnte auch einfach das als Sozialismus bezeichnen, was da im Osten 1989 real zusammengebrochen ist. Zumindest wurde dort allenthalben in Anspruch genommen, den Sozialismus zu verwirklichen. Dagegen kann natürlich gesagt werden, dass der "real existierende" eine Verstümmelung des Sozialismus oder gar ein Missbrauch des Begriffs war. Andererseits: Kann man denn Sozialismus wirklich lösen vom Klassendenken, vom Ziel der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, von materialistischer Geschichtsauffassung? Natürlich kann man jeden Begriff privat definieren, wie man will. Politisch wirkt das jedenfalls dann wie ein Kampf gegen Windmühlenflügel, wenn die Gesellschaft schon etwas Bestimmtes unter einem Begriff versteht, nämlich die eben genannten Punkte.
Diese Punkte sind aber nicht die notwendigen Bestandteile unseres Selbstverständnisses. Was uns eint, ist vielmehr: Wir sehen uns in der Tradition der europäischen Aufklärung. Wir sind von der Berechtigung und Notwendigkeit von Politik überzeugt. Wenn es denn zum Linkssein gehört, sich engagiert in die öffentlichen Angelegenheiten einzumischen, gilt: Die "Politikverdrossenheit" steht rechts.
Unser Selbstverständnis ist in erster Linie eine Verfahrensfrage: Wir sind überzeugt, dass Politik mit dem Kopf zu machen ist und nicht mit dem Bauch. Unser Politikideal ist nicht die bloße Durchsetzung von Interessen, sondern der Diskurs über Ziele, Interessen und Entscheidungen. Die Mehrheitsentscheidung ist in der Demokratie zwar die zweitbeste Lösung, das Ideal aber ist die im rationalen Diskurs gewonnene Einigkeit.
Wir glauben immer noch an die Kraft des besseren Arguments. Wir wollen immer noch überzeugen statt beeinflussen.
Um die Delegation von Entscheidungen auf Repräsentantinnen und Repräsentanten kommt man nicht herum. Aber ohne den politischen Diskurs der Gesellschaft wird Repräsentation hohl.
Wir sind überzeugt von der Universalität elementarer Menschenrechte. Wir sind überzeugt davon, dass es gerecht ist, von dem Reichtum derer, die zufällig stark sind, etwas auf die umzuverteilen, die zufällig schwach sind – dafür ergreifen wir Partei und nennen auf Verlangen unsere Gründe.
Wir sind überzeugt, dass es gewaltiger Anstrengungen bedarf, diesen Planeten auch für nachfolgende Generationen bewohnbar zu halten. Das 21. Jahrhundert muss das Jahrhundert der Umwelt werden (E. U. v. Weizsäcker). Wer dies alles mit Sozialismus bezeichnen will, soll es tun. Wir müssen es nicht. Aber wir tragen unseren Namen aus Respekt vor jenen, die es tun, und vor der historisch verdienstvollen Funktion des Begriffs.
Wider die Taktierer! – die Funktion des Verbandes in der SPD
Wie heißt es so schön nichtssagend und Juso-offiziell: Unser Verhältnis zur SPD sei von kritischer Solidarität bestimmt. Schön zu wissen, dass wir solidarisch sind mit der Partei, in der wir doch (fast) alle Mitglieder sind. Wer ein Juso sein will, muss schon Sozialdemokrat oder Sozialdemokratin sein wollen. Wenn wir in der SPD für etwas stehen sollen, dann nicht für gnadenlose Rekrutierung neuer Mitglieder und Selektion stromlinienförmiger Parteikarrieristen und –karrieristinnen. Eher schon wollen wir ein Bollwerk sein gegen kurzsichtiges Taktieren der Partei nach rechts, von wo – so will es die offenbar erfolgreiche Suggestion der Konservativen glauben machen – vermeintlich Volkes Stimme ertönt. (Selbst wenn dem so ist: Eine Partei muss auch auf Kosten von Prozenten sagen, wo der Wähler und die Wählerin irren.) Hier ist Widerstand nötiger denn je. Das heißt nicht, dass wir altlinke Grale hüten wollen: Denkverbote darf es bei uns nicht geben; alle Argumente sind erlaubt.
Aber wir machen Front gegen populistische Anbiederei und die Übernahme konservativer – sprich irrationaler – Rezepte. In diesem Sinne sind wir nicht nur Jugendverband, sondern auch Richtungsverband.
Wider die Sektierer! – insbesondere im Landesverband
Wenn das Etikett "Juso" heute nur noch das wenige bezeichnen soll, das "Marxisten" (Stamokap-Fraktion), "Trotzkisten" (Voran-Fraktion), "Antirevisionisten" (Göttingerkreis), "Undogmatische" (SP-Fraktion) und "Junge Sozialdemokraten" (Duisburger Kreis und Artverwandte) gemeinsam haben, kann es sich für halbwegs intelligente SPD-Mitglieder unter 35 nicht wirklich lohnen, hier ihre Zeit zu verschwenden. Die Identität der real existierenden Jusos darf nicht länger aus dem kleinsten gemeinsamen Nenner der diversen "Fraktions"-Identitäten bestehen.
Auch in der Sache besteht kaum Anlass, irgend einer der Fraktionen nachzutrauern: Weder haben wir Lust, den Verband länger ins marxistisch-ideologische Abseits geschoben zu sehen, noch wollen wir Opfer niveaubefreiter Überholmanöver von rechts werden. Den Undogmatischen schließlich sei es noch einmal schriftlich gegeben: Es ist eine dürftige Identität, die nur aus dem Verhindern der anderen besteht (weitgehend abstrakte und austauschbare Arbeitsprogramme legen beredtes Zeugnis ab). Und es hat keinen Sinn, mit einer Sekte gegen das Sektierertum vorzugehen. Also: Weg mit den Spiegelfechtereien der durch nichts legitimierten Fraktionsklüngel! Hin (oder zurück) zu den immer noch vorhandenen satzungsmäßigen Strukturen der ideellen Gesamt-Jusos: AG – Kreisverband – Landesverband ...
Die geistige Dauerperspektive "Wie profiliert sich meine Fraktion am besten gegen die anderen Fraktionen?" ist reichlich beschränkt. Richtig lautet die politische Fragestellung immer und überall: "Was wollen die Jusos?" Es macht die Jusos kaputt, wenn die Stimmungen und "Beschlüsse" selbsternannter Fraktionsversammlungen über Basisvoten, d.h. über die demokratisch legitimierten Beschlüsse z.B. von Kreismitgliederversammlungen gestellt werden. Die Tendenz, den Beschlüssen ordentlicher Juso-Gremien keinerlei Verbindlichkeit mehr zuzumessen und sie auf der nächst-"höheren" Kungelebene gegebenenfalls in ihr Gegenteil zu verwandeln, beschleunigt die Selbstauflösung der Jusos sehr erfolgreich.
Wenn es eine Koordination von Jusos gegen das organisierte Sektierertum geben soll, dann ist der demokratische, transparente und satzungsgemäße Weg der, dass sich diejenigen Kreisverbände, die beschlossen haben, dem Sektierertum entgegenzutreten, etwa über ihre Vorstände oder andere Beauftragte über ein gemeinsames Vorgehen verständigen.
Der Juso-Landesverband ist nicht der 16. Kreisverband im Lande, der vor allem jenen Jusos ein Betätigungsfeld bietet, die in ihren Kreisen keine Mehrheit, keine Mitstreiter, keine Strukturen oder keinen Spaß haben. Die Reihenfolge einer ordentlichen Kreis-Koordination gegen das organisierte Sektierertum kann nicht heißen: (1.) Personal, (2.) Kandidaten, (3.) Posten, (4.) Ämter, sondern : (1.) Verfahren, (2.) Ziele, (3.) Positionen, (4.) Personal.
Auf dieser Grundlage sind wir bereit, gemeinsam mit den Jusos anderer Kreisverbände einen Neuanfang im Juso-Landesverband zu machen.
Wider Niveauverlust und Arroganz! – Politische Bildung als Satzungszweck
Die Jusos sind heute nicht mehr die Chefideologen und -ideologinnen der Partei wie nach '68. Deshalb sind wir nicht die schlechteren Jusos. Einem Theorieüberhang braucht man nicht nachzutrauern. Ein Theoriedefizit aber treibt uns in die Bedeutungslosigkeit.
Frische und mutige Politik setzt mühevolle Gedanken und Diskussionsprozesse voraus. Politik ist eben Kopfarbeit. Das heißt auch, dass wir den Anteil von Verbandsverwaltung an unserem Zeitbudget minimieren wollen, um mehr Raum für inhaltliche Diskussion zu haben.
Politik will gelernt sein. Gemeint sind weder Kungelkurse noch ideologische Indoktrinationen. Gemeint ist, dass niemand bereits mit allen richtigen Einsichten versehen zum Verband stößt. Leute, die schon länger dabei sind, wissen aufgrund ihres längeren Trainings tendenziell mehr. Das heißt, dass neue Mitglieder lernbereit, vor allem aber, dass erfahrenere Leute lehrbereit sein müssen, und zwar ohne Arroganz. Niemand darf sich zu schade sein, etwas zu erklären – und wenn es angesichts der hohen Fluktuation im Mitgliederbestand zum elften Mal ist.