Wahlprogramm Kommunalwahl 1901

Aus SPD Geschichtswerkstatt

Kommunalwahlprogramm für die sozialdemokratische Partei der Provinz Schleswig-Holstein, des Fürstentums Lübeck und des Herzogtums Lauenburg, angenommen auf dem Provinzial-Parteitag am 14. Oktober 1901 in Altona.[1]

Entstehung

Kommunalpolitik stand in den ersten Jahrzehnten des Bestehens der SPD nicht auf dem Plan. Man arbeitete auf die große, sozialistische Revolution hin. Außerdem machte es das preußische Wahlrecht schwer für arme Menschen überhaupt in Gemeindevertretungen gewählt zu werden. Doch immer wieder gelang es Sozialdemokraten doch und es stellte sich die Frage, was die Arbeiterbewegung daraus macht.

In den 1890er Jahren entstanden in verschiedenen Regionen des Deutschen Reichs sozialdemokratische Kommunalwahlprogramme. 1891 hatte die SPD das "Erfurter Programm" beschlossen, das natürlich für alle galt, das aber eben nur Dinge ansprach, die auf Reichsebene gelöst werden könnten. Es forderte aber auch eine konsequente Selbstverwaltung der Kommunen.[2] Ein Kommunalwahlprogramm sollte sozialdemokratische Forderungen aufstellen, die abgestimmt auf die gesetzliche Lage in den unterschiedlichen Ländern des Deutschen Reichs waren.

So beauftragte der Provinzialparteitag 1899 eine Kommission damit, einen Entwurf zu erarbeiten. Auf dem nächsten Provinzialparteitag 1900 stellte die Kommission ihren Entwurf vor. Der war sogar von Karl Kautsky geprüft. Der Philosoph und marxistische Theoretiker hatte zudem für den ersten Entwurf eine Einleitung geschrieben:[3]

"Die Gemeinde im kapitalistischen Staat kann nur wirken auf Grundlage der gegebenen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse sie ist nicht im Stande, für sich allein die bestehenden sozialen Gegensätze aufzuheben. Immerhin kann man in ihrem Rahmen auch heute schon dem moralischen und physischen Elend das der Kapitalismus für die arbeitenden Volksmassen stets zu vermehren strebt, entgegen wirken und zur körperlichen und geistigen Wiedergeburt der Arbeiterklasse beitragen."[4]

Aber auch aus Wandsbek und Altona gab es Vorschläge für ein Programm.[4] Die drei Entwürfe waren nicht grundsätzlich unterschiedlich. Der Parteitag diskutierte die Entwürfe und gab sie noch einmal zur Überarbeitung zurück an die Kommission, die im Folgejahr einen Entwurf vorlegte, der die Zustimmung des Parteitags bekam.

Inhalt

Das Kommunalwahlprogramm teilt sich in zwei Teile. Im ersten Teil stehen Forderungen, die sich von den Gemeinden an den Staat richten. Im zweiten stehen konkrete Forderungen für die Gemeinden.

Einige Forderungen sind noch heute aktuell. Beispielsweise besteht die Forderung nach einem Tariftreuegesetz bis heute und viele Schulen würden sich freuen, wenn sie seit 1901 eine Schulkantine bekommen hätten.

Wortlaut

In Rücksicht auf die stetig wachsenden großen sozialen Aufgaben des Gemeinwesens ist es Pflicht der arbeitenden Klassen, alles aufzubieten, maßgebenden Einfluß auch in den Gemeindevertretungen zu gewinnen, die Selbständigkeit derselben anzustreben, sowie ihre ökonomische und politische Leistungsfähigkeit zu erhöhen.

Ausgehend von dieser Erwägung, fordern wir für die Gemeinde und hat die Gemeindeverwaltung zu erstreben:

A. Vom Staate bzw. vom Reiche:

1. Die Anerkennung und Regelung der vollen Selbstverwaltung der Gemeinde auf Grundlage des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts, mit der Maßgabe, daß die Wahlen an einem gesetzlichen Ruhetag stattzufinden haben.

Das Wahlrecht hat sich zu erstrecken auf alle mündigen Personen, ohne Unterschied des Geschlechts, des Standes und der Steuerleistung, sofern sie mindestens seit drei Monaten vor dem Stattfinden der Wahl in der Gemeinde ihren Wohnsitz haben. Durch den Empfang irgend welcher Unterstützung aus öffentlichen Mitteln darf das Wahlrecht weder beschränkt noch aufgehoben werden.

Aufhebung des staatlichen Bestätigungsrechts gegenüber den von der Gemeinde gewählten Beamten.

Anerkennung und Regelung der Haftpflicht der Gemeinde für Schädigungen, die der Gemeinde oder Privatpersonen durch ihre Beamten zugefügt werden.

Aufhebung der getrennten Kollegien.

Gewährung von Diäten für Gemeinderatsmitglieder, Straflosigkeit für Äußerungen derselben in Ausübung ihres Amtes.

Öffentlichkeit der Verhandlungen der Gemeindevertretung, soweit nicht in besonderen Fällen Rücksicht auf wichtige Gemeindeinteressen den Ausschluß der Öffentlichkeit erfordern.

Die Mandatsdauer ist eine zweijährige.

2. Weltlichkeit der Schule und völlige Trennung derselben von der Kirche.

Einheitlichkeit der Schule als Volksschule, obligatorischer Besuch derselben, mit der Maßgabe, daß Schüler und Schülerinnen nach ihrer Befähigung in höhere Schulen aufrücken. Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Lehrmittel. Übernahme der Schullasten auf den Staat und Übertragung der gesetzlich zu regelnden Verwaltung auf die Gemeinde.

Obligatorischer dreijähriger Fortbildungsunterricht für beide Geschlechter. Erteilung des Fortbildungsunterrichts an Wochentagen während der Arbeitszeit.

Gesetzliches Verbot jeder Erwerbstätigkeit schulpflichtiger Kinder.

3. Selbsteinschätzungspflicht für alle Steuerpflichtigen.

4. Abschaffung aller Aufwendungen aus Mitteln der Gemeinde für kirchliche und religiöse Zwecke. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind zu privaten Vereinigungen zu erklären, die ihre Angelegenheiten selbständig ordnen.

5. Staatliche Regelung des Armenwesens unter Übernahme der Verantwortlichkeit und der Lasten auf den Staat. Entlastung und Beschränkung der kommunalen Armenpflege durch eine reichsgesetzliche Witwen- und Waisenversicherung.

Bau und Unterhaltung der großen Verkehrs- und Durchgangsstraßen, sowie die Regulierung der Wasserläufe durch den Staat bzw. durch das Reich.

6. Einheitliche Überweisung der Markt-, Bau-, Wohnungs-, Gesundheits- und Sicherheitspolizei auf die Gemeindeverwaltung.

7. Erweiterung des Expropriationsrechtes (Enteignungsrechtes) speziell in Rücksicht auf die den Gemeinden reichsgesetzlich aufzuerlegende Pflicht der Wohnungsfürsorge. Erlaß eines Reichswohnungsgesetzes (enthaltend unter anderem Normativbestimmungen für Bauordnungen, Wohnungsinspektion, Kreditwesen, Enteignungsrecht).

Errichtung eines Reichswohnungsamtes (Überwachung und Erforschung des gesamten Wohnungswesens, Zentralbehörde für Wohnungsinspektion und Wohnungsstatistik).

Reform des Mietrechts, des Mietprozesses, der Zwangsvollstreckung.

B. Von der Gemeinde:

1. Bis zur gesetzlichen Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts möglichste Herabsetzung des Zensus.

2. Die Gemeindesteuern sind auf direkte Steuern mit steigender Belastung der leistungsfähigen Steuerzahler zu beschränken. Ausschluß von indirekten Abgaben jeder Art.

3. Reform des Volksschulwesens:

a) Festsetzung der Schülerzahl in den einzelnen Klassen auf eine mäßige Höhe, die einen gedeihlichen Unterricht ermöglicht.

b) Errichtung besonderer Schulklassen für Minderbefähigte.

c) Errichtung von Selektaklassen.

d) Errichtung von Schulkantinen zur Verpflegung der Schulkinder.

e) Anstellung von Schulärzten zur regelmäßigen Untersuchung und Beaufsichtigung der Schüler, Schulen und Schuleinrichtungen.

f) Errichtung von Schulbädern.

g) Einführung des Handfertigkeits-Unterrichts für Knaben und Mädchen unter Aufsicht von hierzu vorgebildeten Lehrkräften.

h) Errichtung und Ausbildung von unentgeltlich zur Benutzung stehenden Volksbibliotheken und Lesehallen.

4. Regelung der Kranken- und öffentlichen Gesundheitspflege mit eventueller Unterstützung aus Staatsmitteln. Übernahme und Betrieb der Apotheken durch die Gemeinde unter Ausschluß fiskalischer Profitinteressen.

Unentgeltliche ärztliche Hilfeleistung und Heilmittel.

Errichtung ausreichender und guter Heilanstalten, Pflege- und Versorgungsanstalten für Sieche und dauernd Bedürftige, Kinderbewahranstalten sowie Asyle für Obdachlose.

5. Errichtung von Anstalten zur Lebensmitteluntersuchung und regelmäßige Kontrolle der zum Verkauf gestellten Lebensmittel.

6. Übernahme der Friedhöfe in die Verwaltung der politischen Gemeinde, unentgeltliche Totenbestattung, möglichst obligatorische Feuerbestattung.

7. Humanitäre Ausgestaltung der Armen- und Waisenpflege, Gewährung von ausreichenden Unterstützungssätzen, unter Aufgabe der im geltenden Recht begründeten Praxis, unbemittelte Anverwandte der Unterstützten zum Ersatz der aufgewandten Unterstützungen heranzuziehen.

8. Gemeinderegie für Verkehr, Wasserversorgung, Straßenbeleuchtung usw., sowie nach Bedürfnis auch für die Versorgung der Gemeindemitglieder mit Lebensmitteln und sonstigen notwendigen Produkten zum Selbstkostenpreis.

Möglichste Ausführung aller Gemeindearbeiten, einschließlich der Bauten, in Gemeinderegie, mindestens Regelung des Submissionswesens in der Richtung, daß die Vergebung der Gemeindearbeiten und Lieferungen für die Gemeinde nur unter der vertragsmäßigen Verpflichtung der Unternehmer erfolgt, daß sie für die Gesamtheit der von ihnen beschäftigten Arbeiter die zwischen den Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiter und Unternehmer vereinbarten Lohn- und Arbeitsbedingungen einhalten.

Ablehnung der von den Unternehmern verlangten Aufnahme einer Streikklausel in die Werk- oder Lieferungsverträge.

9. Für die im Gemeindeauftrag beschäftigten Arbeiter und Beamten ist ausreichende Bezahlung, sowie eine Arbeitszeit von nicht länger als acht Stunden täglich und in jeder Woche einmal eine Ruhezeit von mindestens 36 Stunden einzuführen.

Auch ist diesen Arbeitern und Beamten ein jährlicher Erholungsurlaub bei Fortbezug des Gehaltes oder Lohnes zu gewähren.

Desgleichen sind, solange eine diesbezügliche Landes- oder Reichsgesetzgebung nicht besteht, Pensions-, sowie Witwen- und Waisenunterstützungskassen für die Beamten und Arbeiter zu errichten. Das Koalitionsrecht der Arbeiter und Beamten darf in keiner Weise eingeschränkt werden.

Für die Gemeindebetriebe sind Arbeiterausschüsse durch direkte geheime Wahl der Arbeiter zu errichten.

10. Inangriffnahme nützlicher kommunaler Arbeiten bei Arbeitslosigkeit, Errichtung von Gewerbegerichten und Schaffung paritätischer Arbeitsnachweise unter Mitwirkung der Gewerkschaften, so lange diese Institutionen nicht ihre ausreichende reichsgesetzliche Regelung erfahren haben.

11. Regelmäßige statistische Aufnahmen der Arbeits-, Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse durch eine aus Vertretern der Gemeinde, Ärzten und Delegierten der selbständigen Gewerbetreibenden und Arbeiter resp. gewerkschaftlichen Vereinigungen zusammengesetzten [sic] Kommission.

12. Gemeinnützige Wohnungspolitik bis zur reichsgesetzlichen Regelung der Bau- und Wohnungsfrage, Errichtung eines kommunalen Wohnungsangebotes behufs regelmäßiger Wohnungsinspektion und einer Begutachtung gemeindlicher Maßnahmen, Untersuchung der Bautätigkeit, der Preisbewegung des Baulandes und des Wohnungsmarktes, sowie Organisation der Wohnungsvermittlung. Einführung kommunaler Bauordnungen in der Richtung einer energischen Bekämpfung der Mietkasernen (Zonenbausystem). Erbauung von Wohnhäusern mit gesunden Wohnungen auf kommunalem Baugrund in eigener Regie der Gemeinde. Vermietung dieser Wohnungen mit der Maßgabe, daß Überschüsse zu Gunsten des Gemeindefiskus vermieden werden.

Verhinderung der Bodenspekulation und des Wohnungswuchers durch vollständige Einstellung des Verkaufs von Bauland an Private. Systematische Erwerbung von Grund und Boden zu dem Zwecke der Errichtung von Wohnhäusern, resp. zur Verpachtung an gemeinnützige Baugesellschaften, sowie zwecks Schaffung guter und billiger Verkehrseinrichtungen.

13. Zur Durchführung gemeinnütziger Unternehmungen, für welche die Mittel der einzelnen Gemeinden nicht ausreichen, ist die Bildung von Gemeindeverbänden anzustreben.

Literatur

Einzelnachweise

  1. Dieses Wahlprogramm liegt als maschinenschriftlicher Durchschlag im Stadtarchiv Kiel vor (Signatur 6760).
  2. 21. Oktober 1891 - Erfurt: Ein Programm für ein besseres Land, spd.de
  3. Lübecker Volksbote, Ausgabe 201 vom 30.08.1900
  4. 4,0 4,1 Imle, Fanny: Das Kommunalprogramm für Schleswig-Holstein, Lübeck und Lauenburg. in: Die neue Zeit : Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie - 1901 - 19.1900-1901, 1. Bd.(1901), H. 16, S. 500-506