Nordstaat: Unterschied zwischen den Versionen

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Unter dem Namen '''Nordstaat''' wird seit Gründung des Landes Schleswig-Holstein am [[23. August]] [[1946]] immer wieder darüber diskutiert, ob und wie das Bundesland mit anderen Bundesländer kooperieren könnte. Ein erster, sehr engagierter Vertreter dieses Konzepts war [[Hermann Lüdemann]].
'''Nordstaat''' ist das Kürzel für eine Diskussion, die seit der Neuordnung Deutschlands nach [[1945]] immer wieder geführt wird: Kooperation oder Vereinigung Schleswig-Holsteins mit anderen norddeutschen Bundesländern.  


[[Wilhelm Käber]], SPD-Innenminister in der ers­ten gewähl­ten Landesregierung, erinnert sich:
== Bundesland "Unterelbe" ==
Ein erster, sehr engagierter Vertreter dieses Konzepts war [[Hermann Lüdemann]], der schon früh ein Bundesland "Unterelbe" als Zukunft Norddeutschlands propagierte. [[Wilhelm Käber]], Innenminister in der ers­ten gewähl­ten Landesregierung, erinnerte sich:


: "Wir gin­gen davon aus, dass Schleswig-​​Holstein als Land auf Dauer kaum lebens­fä­hig sein werde. Mit der Schaffung eines Landes Nordrhein-​​Westfalen durch die Briten schien uns das Gleichgewicht unter den Ländern der west­li­chen Zonen aus der Balance gebracht zu sein. Denn um opti­mal zu funk­tio­nie­ren, mein­ten wir, brau­che ein Bundesstaat ein annä­hern­des Gleichgewicht sei­ner Glieder. Uns war bewusst, dass Schleswig-​​Holstein in sei­nen engen Grenzen und auf­grund sei­ner spe­zi­fi­schen Wirtschaftsstruktur auf Dauer dazu ver­ur­teilt sein würde, Kostgänger des Bundes und der ande­ren Bundesländer zu sein. Warum, so frag­ten wir, sollte man sich mit den durch die Selbstständigkeit Schleswig-​​Holsteins als Bundesland her­vor­ge­ru­fe­nen Problemen lange her­um­quä­len; es müsse in einem grö­ße­ren Verband ein­ge­bracht wer­den, in dem es ein nütz­li­ches Glied sein könne. [[Hermann Lüdemann]] schwebte ein Land "Unterelbe" vor, das Hamburg und Teile Niedersachsens am lin­ken Elbufer mit umfasste. Aber damit hat er tau­ben Ohren gepre­digt. Obwohl also eine kon­krete Lösung die­ses Problems nicht in Sicht war, mein­ten wir, über den Tag hin­aus den­ken zu sol­len. Wir gaben unse­rem Verfassungsentwurf den Zuschnitt einer vor­rü­ber­ge­hen­den Ordnung für das Provisorium Schleswig-​​Holstein inner­halb des Provisoriums Bundesrepublik.” <ref>Lubowitz, Frank: ''[[Wilhelm Käber]]. Regierung und Opposition'' (Kiel 1986)</ref>
: "Wir gin­gen davon aus, dass Schleswig-​​Holstein als Land auf Dauer kaum lebens­fä­hig sein werde. Mit der Schaffung eines Landes Nordrhein-​​Westfalen durch die Briten schien uns das Gleichgewicht unter den Ländern der west­li­chen Zonen aus der Balance gebracht zu sein. [...] Uns war bewusst, dass Schleswig-​​Holstein in sei­nen engen Grenzen und auf­grund sei­ner spe­zi­fi­schen Wirtschaftsstruktur auf Dauer dazu ver­ur­teilt sein würde, Kostgänger des Bundes und der ande­ren Bundesländer zu sein. Warum, so frag­ten wir, sollte man sich mit den durch die Selbstständigkeit Schleswig-​​Holsteins als Bundesland her­vor­ge­ru­fe­nen Problemen lange her­um­quä­len; es müsse in einem grö­ße­ren Verband ein­ge­bracht wer­den, in dem es ein nütz­li­ches Glied sein könne. [[Hermann Lüdemann]] schwebte ein Land "Unterelbe" vor, das Hamburg und Teile Niedersachsens am lin­ken Elbufer mit umfasste. Aber damit hat er tau­ben Ohren gepre­digt." <ref>Lubowitz, Frank: ''Wilhelm Käber. Regierung und Opposition'' (Kiel 1986), S. </ref>


Schleswig-Holstein bekam daraufhin nur eine [[Landessatzung]]. Erst die Regierung von [[Björn Engholm]] ging im Rahmen der umfangreichen Verfassungs- und Parlamentsreform nach der Barschel-Affäre auch dieses Thema an. Am [[13. Juni]] [[1990]] bekam Schleswig-Holstein eine [[Landesverfassung]]
Diese damals geradezu revolutionäre Auffassung lehnten nicht nur Hermann Lüdemanns Amtskollegen, vor allem Hamburgs Erster Bürgermeister [[Max Brauer]], rundheraus ab. Auch das eigene Kabinett konnte er nicht überzeugen, obwohl er immer wieder auf das Thema zurückkam.<ref>Fischer, Rolf: ''Hermann Lüdemann und die deutsche Demokratie'' (Neumünster 2006), S. 162 f.</ref> Schließlich versuchte er, ebenso vergeblich, das Thema in die Beratungen des Parlamentarischen Rates hineinzutragen:
:"Selbst wir Sozialdemokraten zuckten mit den Schultern, als der treffliche Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Hermann Lüdemann - Regent des "Armenhauses" Deutschlands, wie man sagte -, die Einbeziehung Hamburgs in ein norddeutsches Bundesland verlangte. Auf meinen Rat wurde die Lösung des Problems ausgeklammert."<ref>[[Carlo Schmid]], zit. bei Fischer, Rolf: ''Hermann Lüdemann und die deutsche Demokratie'' (Neumünster 2006), S. 169</ref>


== NOTIZEN ==
Folgen ergaben sich jedoch für Schleswig-Holstein, wie sich [[Wilhelm Käber]] weiter erinnerte:
* [[1971]] [[Jochen Steffen]] - "Nordweststaat" KN 02.1971
:"Obwohl also eine kon­krete Lösung die­ses Problems nicht in Sicht war, mein­ten wir, über den Tag hin­aus den­ken zu sol­len. Wir gaben unse­rem Verfassungsentwurf den Zuschnitt einer vor­ü­ber­ge­hen­den Ordnung für das Provisorium Schleswig-​​Holstein inner­halb des Provisoriums Bundesrepublik." <ref>Lubowitz, Frank: ''Wilhelm Käber. Regierung und Opposition'' (Kiel 1986), S.</ref>
* [[2010]] [[Torsten Albig]] - http://www.welt.de/politik/deutschland/article6392999/Warum-die-Bundeslaender-aufgeloest-werden-sollten.html#
Man beschränkte sich auf eine Landessatzung. Erst die Regierung von [[Björn Engholm]] ging im Rahmen der umfangreichen Verfassungs- und Parlamentsreform nach der Barschel-Affäre auch dieses Thema an. Am [[13. Juni]] [[1990]] verabschiedete der Landtag eine [[Enquete-Kommission für die Verfassungs- und Parlamentsreform, 1988|Landesverfassung]] für Schleswig-Holstein.
 
== "Nordweststaat" ==
Auch [[Jochen Steffen]] versuchte sich an dieser politischen Vision. Die finanziellen und strukturellen Probleme des "Armenhauses" hatten sich seit Lüdemanns Zeiten kaum verändert.<ref>''Steffen: Der Landeshaushalt müßte viermal so groß sein'', ''Kieler Nachrichten'', 28.1.1971</ref> Deshalb brachte er [[1971]] die Idee eines "Nordweststaates" ins Gespräch, die allerdings von der regierenden CDU abgelehnt wurde.<ref>''Narjes gegen Nordweststaat'', ''Kieler Nachrichten'', 5.2.1971</ref>
 
== "Föderalismus abschaffen" ==
Der bislang radikalste Vorschlag kam [[2010]] von Kiels Oberbürgermeister [[Torsten Albig]]: In einem Zeitungsinterview forderte er die Auflösung der Bundesländer, damit das dadurch eingesparte Geld den Kommunen vor Ort zugute komme. Die Unterstellung des Interviewers, dass sich dieser Vorschlag auch gegen den damaligen Ministerpräsidenten persönlich richte, wies er zurück.<ref>[http://www.welt.de/politik/deutschland/article6392999/Warum-die-Bundeslaender-aufgeloest-werden-sollten.html# Warum die Bundesländer aufgelöst werden sollten]'', DIE WELT, 14.2.2010</ref> Mittlerweile ist er selbst Ministerpräsident von Schleswig-Holstein.
 
== Perspektiven ==
Viel näher ist Schleswig-Holstein dem "Nordstaat" in den letzten 70 Jahren nicht gekommen. Trotz der massiven Umstrukturierung der Wirtschaft in Richtung auf moderne Technologien seit [[1988]] durch die Regierungen von [[Björn Engholm]] und [[Heide Simonis]] gehört das Bundesland weiterhin zu den "Kostgängern" im Landesfinanzausgleich; die Diskussion wird also weitergehen.
 
Erste Formen der Annäherung sind nach Auffassung von [[Rolf Fischer]] in der seit einigen Jahren begonnenen engen Kooperation mit Hamburg zu erkennen.<ref>Fischer, Rolf: ''Hermann Lüdemann und die deutsche Demokratie'' (Neumünster 2006), S. 163</ref>


== Quellen ==
== Quellen ==
<references />
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Version vom 24. März 2016, 02:52 Uhr

Nordstaat ist das Kürzel für eine Diskussion, die seit der Neuordnung Deutschlands nach 1945 immer wieder geführt wird: Kooperation oder Vereinigung Schleswig-Holsteins mit anderen norddeutschen Bundesländern.

Bundesland "Unterelbe"

Ein erster, sehr engagierter Vertreter dieses Konzepts war Hermann Lüdemann, der schon früh ein Bundesland "Unterelbe" als Zukunft Norddeutschlands propagierte. Wilhelm Käber, Innenminister in der ers­ten gewähl­ten Landesregierung, erinnerte sich:

"Wir gin­gen davon aus, dass Schleswig-​​Holstein als Land auf Dauer kaum lebens­fä­hig sein werde. Mit der Schaffung eines Landes Nordrhein-​​Westfalen durch die Briten schien uns das Gleichgewicht unter den Ländern der west­li­chen Zonen aus der Balance gebracht zu sein. [...] Uns war bewusst, dass Schleswig-​​Holstein in sei­nen engen Grenzen und auf­grund sei­ner spe­zi­fi­schen Wirtschaftsstruktur auf Dauer dazu ver­ur­teilt sein würde, Kostgänger des Bundes und der ande­ren Bundesländer zu sein. Warum, so frag­ten wir, sollte man sich mit den durch die Selbstständigkeit Schleswig-​​Holsteins als Bundesland her­vor­ge­ru­fe­nen Problemen lange her­um­quä­len; es müsse in einem grö­ße­ren Verband ein­ge­bracht wer­den, in dem es ein nütz­li­ches Glied sein könne. Hermann Lüdemann schwebte ein Land "Unterelbe" vor, das Hamburg und Teile Niedersachsens am lin­ken Elbufer mit umfasste. Aber damit hat er tau­ben Ohren gepre­digt." [1]

Diese damals geradezu revolutionäre Auffassung lehnten nicht nur Hermann Lüdemanns Amtskollegen, vor allem Hamburgs Erster Bürgermeister Max Brauer, rundheraus ab. Auch das eigene Kabinett konnte er nicht überzeugen, obwohl er immer wieder auf das Thema zurückkam.[2] Schließlich versuchte er, ebenso vergeblich, das Thema in die Beratungen des Parlamentarischen Rates hineinzutragen:

"Selbst wir Sozialdemokraten zuckten mit den Schultern, als der treffliche Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Hermann Lüdemann - Regent des "Armenhauses" Deutschlands, wie man sagte -, die Einbeziehung Hamburgs in ein norddeutsches Bundesland verlangte. Auf meinen Rat wurde die Lösung des Problems ausgeklammert."[3]

Folgen ergaben sich jedoch für Schleswig-Holstein, wie sich Wilhelm Käber weiter erinnerte:

"Obwohl also eine kon­krete Lösung die­ses Problems nicht in Sicht war, mein­ten wir, über den Tag hin­aus den­ken zu sol­len. Wir gaben unse­rem Verfassungsentwurf den Zuschnitt einer vor­ü­ber­ge­hen­den Ordnung für das Provisorium Schleswig-​​Holstein inner­halb des Provisoriums Bundesrepublik." [4]

Man beschränkte sich auf eine Landessatzung. Erst die Regierung von Björn Engholm ging im Rahmen der umfangreichen Verfassungs- und Parlamentsreform nach der Barschel-Affäre auch dieses Thema an. Am 13. Juni 1990 verabschiedete der Landtag eine Landesverfassung für Schleswig-Holstein.

"Nordweststaat"

Auch Jochen Steffen versuchte sich an dieser politischen Vision. Die finanziellen und strukturellen Probleme des "Armenhauses" hatten sich seit Lüdemanns Zeiten kaum verändert.[5] Deshalb brachte er 1971 die Idee eines "Nordweststaates" ins Gespräch, die allerdings von der regierenden CDU abgelehnt wurde.[6]

"Föderalismus abschaffen"

Der bislang radikalste Vorschlag kam 2010 von Kiels Oberbürgermeister Torsten Albig: In einem Zeitungsinterview forderte er die Auflösung der Bundesländer, damit das dadurch eingesparte Geld den Kommunen vor Ort zugute komme. Die Unterstellung des Interviewers, dass sich dieser Vorschlag auch gegen den damaligen Ministerpräsidenten persönlich richte, wies er zurück.[7] Mittlerweile ist er selbst Ministerpräsident von Schleswig-Holstein.

Perspektiven

Viel näher ist Schleswig-Holstein dem "Nordstaat" in den letzten 70 Jahren nicht gekommen. Trotz der massiven Umstrukturierung der Wirtschaft in Richtung auf moderne Technologien seit 1988 durch die Regierungen von Björn Engholm und Heide Simonis gehört das Bundesland weiterhin zu den "Kostgängern" im Landesfinanzausgleich; die Diskussion wird also weitergehen.

Erste Formen der Annäherung sind nach Auffassung von Rolf Fischer in der seit einigen Jahren begonnenen engen Kooperation mit Hamburg zu erkennen.[8]

Quellen

  1. Lubowitz, Frank: Wilhelm Käber. Regierung und Opposition (Kiel 1986), S.
  2. Fischer, Rolf: Hermann Lüdemann und die deutsche Demokratie (Neumünster 2006), S. 162 f.
  3. Carlo Schmid, zit. bei Fischer, Rolf: Hermann Lüdemann und die deutsche Demokratie (Neumünster 2006), S. 169
  4. Lubowitz, Frank: Wilhelm Käber. Regierung und Opposition (Kiel 1986), S.
  5. Steffen: Der Landeshaushalt müßte viermal so groß sein, Kieler Nachrichten, 28.1.1971
  6. Narjes gegen Nordweststaat, Kieler Nachrichten, 5.2.1971
  7. Warum die Bundesländer aufgelöst werden sollten, DIE WELT, 14.2.2010
  8. Fischer, Rolf: Hermann Lüdemann und die deutsche Demokratie (Neumünster 2006), S. 163