Stubenzirkel
In Stubenzirkeln trafen sich ab Anfang 1945 Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten heimlich in wechselnenden Stuben (Wohnzimmern), um über Pläne für die Zeit nach dem Ende des Nationalsozialismus zu diskutieren. In Schleswig-Holstein entstanden sie in Kiel und Lübeck.
- "Wiederaufbau und Neuorganisation der lokalen wie regionalen Parteigliederungen, kommunale Probleme und Bedingungen für die politische Arbeit im befreiten Deutschland, selbst personelle Aufgabenverteilungen wurden detailliert diskutiert. Getroffen wurde sich unter strenger Geheimhaltung in wechselnden Wohnungen, Aufzeichnungen wurden zur Sicherheit der beteiligten Personen nicht angefertigt; die Gestapo diktierte den Gruppen den konspirativen Charakter. In Kiel bildeten sich eine ganze Reihe von Zirkeln,die sich teilweise regelmäßig, teilweise sporadisch trafen, z.B. die Gruppen um Albert Witte und Otto Engel (später „Witte-Kreis" und „Engel-Kreis"), Karl Ratz, Hein Wulff, Fiete Wendel, Frieda Döbel, Emil Hackhe, Walter Rapche, Hans Schröder."[1].
Das erste Treffen in Kiel Dietrichsdorf zum Beispiel fand im August 1945 bei der Genossin Ida Münzmay statt. Einige Zeit später kam man beim Genossen Joseph Christel zusammen. Feierlich wurde die Traditionsfahne hervorgeholt und zum ersten Mal wieder aufgehängt. Genosse Kurt Herrmann, einer der fünf Teilnehmer, sagte später darüber: "Es war ein gutes Gefühl, das will ich Dir sagen, wir sind wieder da!"
Konfliktfrei verliefen die Diskussionen in den Stubenzirkeln allerdings nicht, denn zu verschieden waren die Zukunftsvorstellungen der Einzelnen. Hinzu kam, dass verschiedene Lehren aus der Endphase der Weimarer Republik gezogen wurden und insbesondere unterschiedliche Erfahrungen mit den Kommunisten vor und während der NS-Zeit eine Rolle spielten bei der politischen Planung. Während die einen aufgrunf des gemeinsamen Leides und der Widerstandsarbeit für eine sozialistische Einheitspartei mit den Kommunisten eintraten, befürworteten die anderen die traditionelle Trennung aufrecht zu halten.[2]
Man einigte sich auf die Reaktivierung der Partei in ihrem traditionellen Aufbau, von Ortsverein hinauf zu Parteivorstand und -ausschuß. Karl Ratz sollte als Vorsitzender für die Kieler Parteigliederung nominiert werden."[3].
Aus Sicherheitsgründen gab es keine schriftlichen Aufzeichungen der Stubenzirkel. Es gibt aber Erinnerungen von Zeitzeugen, zum Beispiel von Emil Bandholz:
- "Kiel war am 2. und 3. Mai das letzte Mal durch große englische Bombergeschwader angegriffen worden, um die kampflose Übergabe der Stadt zu erzwingen. Meine bisher intakte Wohnung im Tondernweg 11 blieb auch jetzt unzerstört. So machte ich mich danach erst einmal auf den Weg, um in der Stadt an den mir vertrauten Orten festzustellen, wer von meinen Bekannten den letzten Angriff und schlechthin den Zusammenbruch unbeschadet überlebt hatte. Durch diese Erkundungen und Mund-zu-Mund-Propaganda erfuhr man, wer von den alten Sozialdemokraten noch lebte und in Kiel war.
- Diesen Personenkreis erfaßte man zunächst und sondierte in Vorgesprächen, wer den alten Idealen der Sozialdemokratie treu geblieben war. Dieser Personenkreis traf sich dann in verschiedenen Stuben und führte dann die ersten Gründungsgespräche. Daraus bildeten sich bald - etwa im Juni - in verschiedenen Distrikten der Stadt Stubenzirkel, aus denen später die Ortsvereine hervorgingen. Selbst gründete ich in meiner Wohnung im Tondernweg 11 den Wiker Ortsverein.
- Auf der Gründungsversammlung der Ellerbeker Ortsvereins hielt ich z.B. das Hauptreferat und war so bei seiner Entstehung behilflich. So erinnere ich mich, daß auch die anderen Ortsvereine noch vor der offiziellen Genehmigung durch die Engländer in anderen Wohnungen entstanden.
- Stubenzirkel der Art gab es z.B. in den Wohnungen von Karl Ratz, Otto Engel, Albert Witte, Hein Wulff, Fiete Wenzel, Frieda Döbel, Emil Hacke, Walter Rapke, Hans Schröder, Paul Dräger, Richard Hansen, Richard Tiede, Ludwig Stahl, Hermann Köster, Rechtsanwalt Meyer-Grieben u.a.
- Die ersten Kontakte und eine vorsichtige Zusammenarbeit mit der englischen Militärregierung über die Absicht, eine sozialdemokratische Partei oder eine Einheitspartei zu gründen, waren schwer. Sie verbesserten sich dann aber auch in Kiel für uns spürbar, als die Labour-Party in England den Sieg errang und Attlee im Juli 1945 an die Stelle von Churchill trat."[4]
Auch Dr. Hilde Portofée erinnerte sich an die Zeit der Stubenzirkel, zu denen sie seit Juli 1945 angehörte:
- "Alle diese (Personen) trafen sich. Sie kannten sich aus ihrer Studentenzeiten und wußten, daß sie sich aufeinander verlassen konnten. Sie hatten bei den Nazis nicht mitgemacht, waren also im politischen Spektrum links orientiert, wenn auch nicht ganz links... In diesem Zirkel war auch die Möglichkeit einer Einheitspartei, einer sozialistischen Einheitspartei im Gespräch... "[5]
Die Stubenzirkel bestanden noch bis September 1945, bis sie von regulären Ortsvereinen abgelöst wurden[6].
Quellen
- ↑ Hans Christian Nissen: 1933–1945: Widerstand, Verfolgung, Emigration, Anpassung.. In: Beirat für Geschichte der Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig-Holstein (Hrsg.): Demokratische Geschichte, Band 3 (Bad Malente 1988), S. 493
- ↑ SPD Kiel (Hrgs.) "Kiel im Mai 1945 - Hell aus dem dunklen Vergangenen leuchtet die Zukunft empor", Kiel 1985
- ↑ Hans Christian Nissen: 1933–1945: Widerstand, Verfolgung, Emigration, Anpassung.. In: Beirat für Geschichte der Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig-Holstein (Hrsg.): Demokratische Geschichte, Band 3 (Bad Malente 1988), S. 493
- ↑ SPD Kiel (Hrgs.) "Kiel im Mai 1945 - Hell aus dem dunklen Vergangenen leuchtet die Zukunft empor", Kiel 1985
- ↑ SPD Kiel (Hrgs.) "Kiel im Mai 1945 - Hell aus dem dunklen Vergangenen leuchtet die Zukunft empor", Kiel 1985
- ↑ Hans Christian Nissen: 1933–1945: Widerstand, Verfolgung, Emigration, Anpassung.. In: Beirat für Geschichte der Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig-Holstein (Hrsg.): Demokratische Geschichte, Band 3 (Bad Malente 1988), S. 493