Hans-Peter Bartels: Das Wirken von Carl Legien: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 11. Dezember 2014, 22:08 Uhr

Vortrag von Hans-Peter Bartels anlässlich des Festakts 100 Jahre Gewerkschaftshaus Kiel am 5. Juli 2007

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir feiern hundert Jahre Gewerkschaftshaus. Dies ist das Haus. Die Adresse ist Legienstraße 22. Die Gastronomie, die uns bewirtet, heißt "Legienhof".

Aber wer ist Carl Legien? Weiß man das in Kiel, weiß man das in Deutschland?

Kurt Hamer, der vor mehr als 20 Jahren – als Landtagsvizepräsident – hier an gleicher Stelle eine Jubiläumsrede zu halten hatte, klagte damals, dass Meyers Enzyklopädisches Lexikon Carl Legien ganze 10 Zeilen widmet, ohne Abbildung und ohne zu erwähnen, dass er dem Reichstag angehörte. Das seien ebenso viele Zeilen, wie der Operettenkomponist Franz Lehar erhält – der allerdings mit Foto.

Ich habe geprüft, ob das inzwischen besser geworden ist, und im neuen 20-bändigen Zeit-Lexikon nachgeschlagen. Aber im Gegenteil! Legien: 9 Zeilen, Lehar: 13 Zeilen, diesmal beide ohne Bild.

Und, ehrlich gesagt, ich selbst habe auch nicht immer viel über diesen alten Legien, der irgendwas mit der Geschichte der Gewerkschaften zu tun hatte, gewusst.

In der Biografie, die sein Nachfolger Theodor Leipart geschrieben hat, heißt es über Legiens letzten Gang, der 1920 durch die östlichen Arbeiterviertel Berlins führte:

"Durch all die langen Straßenzüge stauten sich die Zehntausende der Männer, Frauen und Kinder auf beiden Seiten des Zuges zu einer undurchdringlichen lebendigen Mauer, alle Fenster der Wohnhäuser und Fabriken, die nur irgendeinen Ausblick auf die Straße gestatteten, waren mit Köpfen gefüllt."

Und Leipart schreibt weiter:

"Die Art, wie all die Jünglinge, die Männer und die Greise ihre Kopfbedeckung herunternehmen und vor sich halten, bis der Sarg an ihnen vorbeigezogen, gibt mir Aufschluss über ihre politischen Anschauungen und ihre Parteizugehörigkeit. Mir ist, als könnte ich aus der Haltung und dem Gesichtsausdruck jedes einzelnen erkennen, ob er Sozialdemokrat, Unabhängiger oder Kommunist ist. Und ich glaube zwar, eine gewisse merkbare Abstufung in dem Grade der Ergriffenheit und Teilnahme zu sehen, aber ich finde selbst bei den Kommunisten nicht, dass es ihnen irgendwelche Überwindung kostet, dem großen Führer der Gewerkschaften, der politisch ihr größter Gegner war, die letzte Ehre zu erweisen."

Was war das für ein Mann? Im Soldbuch, das ihm wohl im Alter von 20 Jahren ausgestellt wurde, werden seine biometrischen Daten so beschrieben:

"Größe 1,64 Meter, Gestalt klein, Kinn spitz, Nase und Mund gewöhnlich, Haare schwarz."

Carl Legien war der erste sozialdemokratische Abgeordnete für den Wahlkreis Kiel im Reichstag. 1893 wurde er zum ersten Mal direkt gewählt. Und mit Ausnahme einer Wahlperiode – 1898-1903 – blieb er der Kieler Vertreter im Reichstag bis zu seinem Tode 1920. Das heißt: insgesamt 22 Jahre Parlament. Nicht ganz so lang wie Norbert Gansel (25 Jahre). Aber immer mit diesen Ergebnissen, wie wir Sozialdemokraten sie gern sehen, 1893: 50,4 Prozent, 1903: 56 Prozent, 1907: 51,2 Prozent, 1912: 52,8 Prozent, 1919 (Nationalversammlung): 50,1 Prozent.

Legien wurde 1861 geboren. 1885, noch zur Zeit der Sozialistenverfolgung, trat der junge Carl Legien in Frankfurt am Main der SPD bei. Nach dem frühen Tod der Eltern war er groß geworden in einem Waisenhaus in Thorn. Er wurde Drechsler, ging auf Wanderschaft, leistete drei Jahre Militärdienst und wurde, nachdem er sich in Hamburg niedergelassen hatte, bereits 1887 Zentralvorsitzender der Vereinigung der Drechsler Deutschlands; zunächst ehrenamtlich, ab 1889 dann als Gewerkschaftsangestellter mit einem jährlichen Gehalt von 700 Mark.

Die Drechsler-Gewerkschaft hatte damals 3000 Mitglieder und – wie es so schön treffend hieß: – 75 "Zahlstellen", also 75 Ortsvereine.

Das politische Klima zur Zeit des Sozialistengesetzes war ausgesprochen feindselig. Für Reichskanzler Otto von Bismarck war klar – ich zitiere – "dass die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur den göttlichen Geboten und der christlichen Sittenlehre widersprechen, sondern in der Wirklichkeit unausführbar und in ihren Konsequenzen dem Einzelnen und dem Ganzen gleich verderblich sind".

Vor diesem Hintergrund begann Legien seine gewerkschaftliche Arbeit. Er war Mitbegründer der "Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands" und deren Vorsitzender von der Gründung im Jahr 1890 bis zur Umwandlung in den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund im Jahr 1919. Den ADGB führte er dann noch ein Jahr, bis zu seinem frühen Tod. Insgesamt also stand er 30 Jahre lang, drei Jahrzehnte, an der Spitze der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland.

Legien stand für Gewerkschaften, die nicht wie Parteigliederungen funktionieren, sondern organisatorisch unabhängig von der Partei sind. Das war in den Jahren des gewaltigen Aufstiegs der SPD zur Massenpartei mit einer Million Mitgliedern 1912 und 33 Prozent der Stimmen in Reich nicht selbstverständlich.

Die von Legiens Generalkommission vertretenen Gewerkschaften hatten am Anfang eine viertel Million Mitglieder, und die Organisation war alles andere als schlagkräftig.

Parteigrößen wie Bebel, Liebknecht und Auer lehnten es ab, mit den Gewerkschaften "von Macht zu Macht zu verhandeln". Darüber gab es Debatten auf dem Parteitag der SPD 1893 in Köln.

Gegen Spalter-Vorwürfe verteidigte sich Legien damals so: "Wie sollen wir uns denn teilen? Ich kann doch nicht mit einem Teil meiner Person für die Partei und mit dem anderen dagegen sein. Ich habe doch nur einen Mund, einen Verstand, eine Überzeugung."

Strittig zwischen den beiden Organisationen war vor allem die Frage, wer wann die Arbeiter zum Generalstreik aufrufen dürfe. Liebknecht und Luxemburg vertraten die Ansicht, die SPD müsse durch den Aufruf zum Massenstreik eine revolutionäre Situation herbeiführen. Die Gewerkschaftsführung dagegen sah den Massenstreik eher als ultima ratio, als letztes Kampfmittel zur Verteidigung des Reichstagswahlrechts und der Vereinigungsfreiheit. Die Gewerkschaften akzeptierten hier kein Primat der Partei.

Legien war kein Wahlkreisabgeordneter, wie wir das heute kennen. Und der Reichstag war kein Arbeitsparlament, wie der Bundestag eines ist. Und es war ja auch die Reichsregierung damals im Kaiserreich keine parlamentarische, sondern eine vom Kaiser eingesetzte.

Insofern: Legien war kein Kieler, und er lebte auch ganz überwiegend nicht hier, sondern, soweit meine Quellen das hergeben, in Hamburg und Berlin. Dennoch hat Legien kräftig Wahlagitation im Wahlkreis betrieben.

Im Parlament lagen ihm die Interessen der Arbeiter auf den Kaiserlichen Werften des Ostufers besonders am Herzen: Hier ging es um zu niedrige Löhne, Maßregelungen, unwürdige Behandlung, die Verweigerung des freien Koalitionsrechts. "Solange ich dem hohen Hause angehöre", rief er 1908 in einer Reichstagssitzung dem Staatssekretär von Tirpitz zu, "werde ich Ihnen Jahr für Jahr mit diesen Beschwerden kommen, und wir werden einmal sehen, wer es länger aushält."

Wie so viele Sozialdemokraten des Kaiserreichs war Legien der Praxis nach ein Reformer; er wollte hier und jetzt etwas erreichen. Aber die Rhetorik blieb Revolutionsrhetorik, so sehr schön in einer Parlamentsrede 1897:

"Dem Herrn Freiherrn von Stumm gegenüber möchte ich noch kurz bemerken, dass, wenn er glaubt, dass die Sozialdemokratie aus der Hölle gekommen sei, ich ihn bei diesem Glauben – überhaupt bei seinem Glauben an die Hölle – lassen will. Die Sozialdemokratie ist weder aus dem Himmel noch aus der Hölle gekommen, sondern ist ein Produkt der Entwicklung der Wirtschaftsverhältnisse, der gesellschaftlichen Zustände. […] Sie wird weder dadurch, dass die Arbeiter unterliegen, noch durch irgendwelche anderen, von Ihrer Seite getroffenen Maßnahmen in ihrer Fortentwicklung gehemmt werden. Sie wird ihren revolutionären Charakter behalten, sie wird sich nicht zu einer Reformpartei entwickeln. Das kann sie nicht, das darf sie nicht. Sie wird ihren revolutionären Charakter behalten, und sie wird fortleben, trotz Ihrer Maßnahmen."

Carl Legien ist ein unermüdlicher Kämpfer und Organisator. Als 1901 die Internationale der Gewerkschaftsbewegung entsteht, wird er deren erster Sekretär und bleibt es bis 1919.

Die deutsche Arbeiterbewegung ist damals tatsächlich die bedeutendste weltweit. Legien geht 1912 auf eine mehrmonatige Werbereise durch die USA. Bei einem Empfang für ihn, den Abgeordneten, im US-Kongress nimmt er Stellung zu dem drohenden Unheil, das er heraufziehen sieht:

"Die Arbeiterbewegung der ganzen Welt erstrebt den Weltfrieden und gibt nicht zu, dass die Nationen miteinander in Wettbewerb treten in der Herstellung der modernsten Waffen zu gegenseitigem Abmorden."

Das Abmorden beginnt im August 1914. Und die Internationale ist nicht stark genug, es zu verhindern.

SPD und Gewerkschaften sind gegen den Krieg, aber als er begonnen hat, schließen sie Burgfrieden mit dem Klassenfeind. Sie wollen keine Eroberungen, aber auch nicht erobert werden. Eine schwierige Gratwanderung. Legien begründet auf dem SPD-Parteitag 1916 seine Haltung:

"Wir haben uns in Deutschland eine Arbeiterkultur geschaffen, wie sie in keinem Land der Welt besteht. Diese Kultur wollen wir der Arbeiterschaft erhalten. Auf der Grundlage dieser Kultur wollen wir den Sozialismus erobern. Der Sozialismus ist keine reife Frucht, die man aus dem einen Lande ins andere tragen kann. Wir müssen ihn im eigenen Lande herbeiführen."

Arbeiterkultur, das waren in Deutschland neben Gewerkschafts- und Parteileben die Konsumvereine mit ihren Millionen Genossen, die Arbeiterbauvereine, die Produktionsgenossenschaften, Arbeiter-Turnvereine, Bildungszirkel, eigene Verlage und die Massenpresse der Sozialdemokratie.

Davon ist auch heute noch manches übrig, so etwa der größte private Arbeitgeber Schleswig-Holsteins: die coop-Genossenschaft in Kiel.

Der Krieg geht zu Ende, von Kiel, vom ersten Arbeiter- und Soldatenrat, der hier im Gewerkschaftshaus getagt hat, geht die Revolution aus. Am 9. November 1918 wird aus dem Kaiserreich eine Republik. Die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt gehen auf den Rat der Volksbeauftragten über. In den Rätekongressen haben Sozialdemokraten die Mehrheit. Diese setzen den Kurs durch, den auch Legien für richtig hält: Demokratie, Freiheit, Wahlen und nicht bolschewistische Diktatur nach dem Vorbild, das Lenin in Russland ein Jahr zuvor gegeben hat.

In dieser Situation, im November 1918, handeln Legien und andere auf Seiten der Gewerkschaften mit den Vertretern der Arbeitgeberverbände, Stinnes, Siemens, Borsig, Rathenau, das legendäre Legien/Stinnes-Abkommen aus. Dieses beinhaltet u.a.:

  • den Achtstundentag bei vollem Lohnausgleich,
  • die Anerkennung der freien Gewerkschaften als Tarifpartei,
  • Arbeiterausschüsse in Betrieben über 50 Beschäftigten.

Das ist die Grundlage für alles, was heute Tarifautonomie und Mitbestimmung heißt.

Der langjährige DGB-Vorsitzende Heinz-Oskar Vetter (1969-1982) schreibt:

"Manch einer mag das alles für ein Nichts halten gegenüber denkbaren revolutionären Umwälzungen. Aber jeder, der die Geschichte der letzten hundert Jahre überblickt, wird eingestehen müssen, dass es weder vorher noch nachher eine verbindliche Vereinbarung mit ähnlich weitgehenden Konzessionen der Arbeitgeber gegeben hat. Dieses Verdienst kommt in hohem Maße Carl Legien zu."

1919 wird auch der Bund der Gewerkschaften verbindlicher. An die Stelle der Generalkommission tritt ein richtiger Dachverband für acht Millionen Mitglieder: der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund ADGB. Legien wird mit großer Mehrheit zum ersten Vorsitzenden gewählt.

Am 13. März 1920 putschen rechte Kreise unter Wolfgang Kapp und dem General von Lüttwitz gegen die Republik. Noch am selben Tag verabschiedet der Vorstand des ADGB in Berlin einen Aufruf. In dem Aufruf, der von Legien unterzeichnet ist, heißt es:

"Das Volk wäre nicht wert der Freiheiten und Rechte, die es sich erkämpft hat, wenn es sie nicht bis zum Äußersten verteidigen würde. Wir fordern daher alle Arbeiter, Angestellten und Beamten auf, überall sofort in den Generalstreik zu treten."

Der Ausgabe dieser Parole folgt die Arbeitsniederlegung im ganzen Reich unmittelbar. Kapp versucht hierauf zunächst mit den Gewerkschaften zu verhandeln und stellt weitgehende Zugeständnisse in Aussicht. Dann droht er mit Todesstrafe für die Streikführer und Streikposten. Schließlich bricht der Kapp-Putsch zusammen.

Nun verhandelt die Streikleitung mit der Reichsregierung und verlangt unter anderem entscheidenden Einfluss auf die Neubildung des Kabinetts. Man bietet Legien das Amt des Reichskanzlers an. Er lehnt ab. Carl Legien spürt wohl, dass er dieses Amt nicht mehr würde ausfüllen können.

Er stirbt am 26. Dezember 1920 an Krebs.

Ich komme zum Schluss. Als ich diese Lebensdaten meines berühmten Vorgängers, des ersten Kieler SPD-Abgeordneten in Berlin, zusammengetragen habe, war ich immer wieder überrascht, wie wenig wir über unsere eigene Geschichte wissen, wie wenig wir in der Schule davon erfahren, wie wenig diese Geschichte in Kiel präsent ist.

Was ist noch über Carl Legien zu sagen? Legien war Autodidakt. Er hat viel gelesen, hörte auch Vorlesungen an der Humboldt-Akademie in Berlin. Er war Turner. Und er blieb unverheiratet, ohne Nachkommen.

In der großen sozialdemokratischen Kontroverse um den Alkohol: Abstinenz oder Nicht-Abstinenz, vertrat er entschieden die nicht abstinente Position. Bei einer Wahlkampfveranstaltung in einer Gaststätte in Kiel wurde Legien einmal gefragt, wie er zur Abstinenzbewegung stehe. Seine Antwort war brüsk: "Kellner, noch einen Grog!"

Um es noch einmal zu sagen: Carl Legien war ein unbedingter Befürworter der Trennung von Partei und Gewerkschaften. Die Partei war für den Staat, die Gewerkschaften für die Wirtschaft zuständig. So hat er es immer vertreten. Aber was er überhaupt nicht wollte, waren unpolitische Gewerkschaften, waren Funktionäre, die Nur-Gewerkschafter waren. Beide Organisationen hatten doch zum Ziel die Verbesserung der Lage der arbeitenden Menschen, sei es als Arbeiter im Betrieb, sei es als Staatsbürger in der Gesellschaft. Deshalb erwartete er von den Aktiven das gleiche, was er selbst vorlebte: Engagement an beiden Fronten, in Gewerkschaft und Partei.

Dieses Thema ist, wie mir scheint, immer noch aktuell, auch wenn vieles inzwischen anders geworden ist. Aber immer noch gibt es so viel in der betrieblichen und tariflichen Wirklichkeit zu verbessern. Und immer noch gibt es so viel, was in den Parlamenten für die Rechte der arbeitenden Menschen getan werden muss. Und immer noch ist das ein Spannungsverhältnis: Gewerkschaft und Partei – oder wenn’s denn sein muss: Parteien.

Man mag mir nachsehen, wenn ich das so sehe – aber für mich ist das Fazit: Carl Legien war ein großer und in seiner Zeit ein enorm erfolgreicher Gewerkschafter und Sozialdemokrat. Und da er dieses Haus vor 100 Jahren eingeweiht hat, gedenken wir seiner heute parteiübergreifend mit Rührung.