Nordstaat
Nordstaat ist das Kürzel für eine Diskussion, die seit der Neuordnung Deutschlands nach 1945 immer wieder geführt wird: Kooperation oder Vereinigung Schleswig-Holsteins mit anderen norddeutschen Bundesländern.
Bundesland "Unterelbe"
Ein erster, sehr engagierter Vertreter dieses Konzepts war Hermann Lüdemann, der schon früh ein Bundesland "Unterelbe" als Zukunft Norddeutschlands propagierte. Wilhelm Käber, Innenminister in der ersten gewählten Landesregierung, erinnerte sich:
"Wir gingen davon aus, dass Schleswig-Holstein als Land auf Dauer kaum lebensfähig sein werde. Mit der Schaffung eines Landes Nordrhein-Westfalen durch die Briten schien uns das Gleichgewicht unter den Ländern der westlichen Zonen aus der Balance gebracht zu sein. [...] Uns war bewusst, dass Schleswig-Holstein in seinen engen Grenzen und aufgrund seiner spezifischen Wirtschaftsstruktur auf Dauer dazu verurteilt sein würde, Kostgänger des Bundes und der anderen Bundesländer zu sein. Warum, so fragten wir, sollte man sich mit den durch die Selbstständigkeit Schleswig-Holsteins als Bundesland hervorgerufenen Problemen lange herumquälen; es müsse in einem größeren Verband eingebracht werden, in dem es ein nützliches Glied sein könne. Hermann Lüdemann schwebte ein Land "Unterelbe" vor, das Hamburg und Teile Niedersachsens am linken Elbufer mit umfasste. Aber damit hat er tauben Ohren gepredigt." [1]
Diese damals geradezu revolutionäre Auffassung lehnten nicht nur Hermann Lüdemanns Amtskollegen, vor allem Hamburgs Erster Bürgermeister Max Brauer, rundheraus ab.
"Zu den Möglichkeiten eines eventuellen Zusammenschlusses von Schleswig-Holstein und Hamburg erklärte Brauer [während einer Rede am 3. Juli 1950 in Kiel], seiner Meinung nach würde sich ein solcher Zusammenschluß für Schleswig-Holstein verhängnisvoll auswirken, da dabei die Agrar-Interessen und zumindest Städte wie Kiel und Flensburg 'unter den Schlitten kämen'."[2]
Auch das eigene Kabinett konnte der Ministerpräsident nicht überzeugen, obwohl er immer wieder auf das Thema zurückkam.[3] Schließlich versuchte er, ebenso vergeblich, das Thema in die Beratungen des Parlamentarischen Rates hineinzutragen. Auch Carlo Schmid war nicht dafür:
"Selbst wir Sozialdemokraten zuckten mit den Schultern, als der treffliche Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Hermann Lüdemann - Regent des "Armenhauses" Deutschlands, wie man sagte -, die Einbeziehung Hamburgs in ein norddeutsches Bundesland verlangte. Auf meinen Rat wurde die Lösung des Problems ausgeklammert."[4]
Andererseits war Carlo Schmid vor 1952 an der Schaffung des "Südweststaates" aus den Ländern Württemberg und Baden beteiligt, ebenso wie Theodor Eschenburg, dem wohl bewusst war, wie allein Hermann Lüdemann mit seinem Denken stand:
"Wir müßten, so gab ich zu bedenken, vor allem den norddeutschen Ländern die Furcht nehmen, daß unser Zusammenschluß ein Präjudiz für einen Nordstaat aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg und Bremen werden würde. Als Norddeutscher und Hanseat wußte ich, wie sich die Hansestädte gegen jeden Schritt wehren würden, der das suggerierte."[5]
Folgen ergaben sich jedoch für Schleswig-Holstein, wie sich Wilhelm Käber weiter erinnerte:
"Obwohl also eine konkrete Lösung dieses Problems nicht in Sicht war, meinten wir, über den Tag hinaus denken zu sollen. Wir gaben unserem Verfassungsentwurf den Zuschnitt einer vorübergehenden Ordnung für das Provisorium Schleswig-Holstein innerhalb des Provisoriums Bundesrepublik." [6]
Man beschränkte sich auf eine Landessatzung, um den provisorischen Charakter deutlich zu machen. Im Artikel 53 (2) der Landessatzung hieß es dann sogar: "Die Landessatzung verliert vorbehaltlich anderweitiger bundesgesetzlicher Regelung ihre Gültigkeit an dem Tage, an dem die von Schleswig-Holsten erstrebte Neugliederung des Bundesgebiets in Kraft tritt."[7]
Erst die Regierung von Björn Engholm ging im Rahmen der umfangreichen Verfassungs- und Parlamentsreform nach der Barschel-Affäre auch dieses Thema an. Am 13. Juni 1990 verabschiedete der Landtag eine Landesverfassung für Schleswig-Holstein. Mit ihr fiel auch das Ziel der Neugliederung der Bundesrepublik aus dem Text.
1991 errichtete das Land ein eigenes Oberverwaltungsgericht, welches fortan die Aufgaben wahrnahm, die bis dato das Oberverwaltungsgericht Lüneburg als gemeinsames Oberverwaltungsgericht der Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein wahrgenommen hatte. Erst am 1. Mai 2008 nahm das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht seine Arbeit auf. Bis dahin wurden landesverfassungsrechtliche Rechtsstreite vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen, das als Landesverfassungsgericht tätig wurde.
Ernst-Kommission
Willy Brandts Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 ist vor allem für den Satz "Wir wollen mehr Demokratie wagen." bekannt. Er kündigte dort aber auch eine Neugliederung der Bundesrepublik an: "Für die Länderneugliederung werden wir von dem nach Artikel 29 des Grundgesetzes gestellten Auftrag ausgehen." In dem Artikel heißt es in Absatz 1: "Das Bundesgebiet kann neu gegliedert werden, um zu gewährleisten, daß die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können. Dabei sind die landsmannschaftliche Verbundenheit, die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit sowie die Erfordernisse der Raumordnung und der Landesplanung zu berücksichtigen."[8] Der Bundeskanzler setzte die "Ernst-Kommission" unter dem ehemaligen Staatssekretär und "Bau- und Bodenpapstes" Werner Ernst ein.
Auch Jochen Steffen versuchte sich an dieser politischen Vision. Die finanziellen und strukturellen Probleme des "Armenhauses" hatten sich seit Lüdemanns Zeiten kaum verändert.[9] Deshalb brachte er 1971 die Idee eines "Nordweststaates" ins Gespräch, die allerdings von der regierenden CDU abgelehnt wurde.[10]
Ernst-Kommission erarbeitete bis 1973 einen Bericht, der für den Norden zwei Möglichkeiten vorsah:
- Ein einziges Bundesland Nord aus Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen
- Zwei neue Länder: ein Land Nordost aus Schleswig-Holstein, Hamburg und dem nördlichen Niedersachsen (von Cuxhaven bis Lüchow-Dannenberg) und ein Land Nordwest aus Bremen und dem übrigen Niedersachsen
Der Landesparteitag 1973 bezog sich auf den Vorschlag der Ernst-Kommission und forderte die Bundestagsfraktion auf, noch für die laufende Legislaturperiode eine gesetzliche Grundlage für die Neuordnung zu schaffen und bekräftigte das Bekenntnis zum Nordstaat aus den bisherigen Ländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen.[11]
"Föderalismus abschaffen"
Der bislang radikalste Vorschlag kam 2010 von Kiels Oberbürgermeister Torsten Albig: In einem Zeitungsinterview forderte er die Auflösung der Bundesländer, damit das dadurch eingesparte Geld den Kommunen vor Ort zugute komme. Die Unterstellung des Interviewers, dass sich dieser Vorschlag auch gegen den damaligen Ministerpräsidenten persönlich richte, wies er zurück.[12] Mittlerweile ist er selbst Ministerpräsident von Schleswig-Holstein gewesen.
Enquetekommission 2010
Am 29. Januar 2010 beschloss der Landtag die Einsetzung einer Enquetekommission Chancen einer verstärkten norddeutschen Kooperation mit Gitta Trauernicht als stellvertretender Vorsitzender; die SPD vertraten außerdem Martin Habersaat und Anette Langner. Ihre StellvertreterInnen waren Detlef Buder, Regina Poersch und Olaf Schulze.
Der 400 Seiten starke Abschlussbericht lag dem Landtag am 22. Februar 2012 zur Beratung vor[13]; er wurde zur abschließenden Beratung in alle Ausschüsse des Landtags überwiesen. Einig waren sich die Fraktionen jedenfalls darüber, dass eine engere Kooperation mit dem wirtschaftlich mächtigeren Nachbarn Hamburg angestrebt werden müsse.
Perspektiven
Viel näher ist Schleswig-Holstein dem "Nordstaat" in den letzten 70 Jahren nicht gekommen. Vermutlich sind die Widerstände und Befürchtungen auf allen Seiten zu groß. Trotz der massiven Umstrukturierung der Wirtschaft in Richtung auf moderne Technologien seit 1988 durch die Regierungen von Björn Engholm und Heide Simonis gehört das Bundesland weiterhin zu den "Kostgängern" im Landesfinanzausgleich. Dies wird sich ab 2020 ändern, wenn die Verteilung der Finanzmittel zwischen Bund und Ländern auf eine neue Grundlage gestellt wird. Man wird sehen, welchen Einfluss dies auf die weitere Diskussion um Variationen des "Nordstaates" hat.
Erste Formen der Annäherung sind nach Auffassung von Rolf Fischer in der Anfang des Jahrtausends begonnenen engen Kooperation mit Hamburg zu erkennen.[14] Ende 2016 konstituierte sich ein gemeinsamer Ausschuss des Landtages und der Hamburgischen Bürgerschaft, in dem länderübergreifende Themen wie die Justizkooperation, das Gastschulabkommen oder Verkehrsprojekte besprochen werden. Vorsitzender Martin Habersaat stellte allerdings klar: "Wir planen hier nicht den Nordstaat."[15]
Literatur
- Ruck, Michael: Ein Provisorium im Strukturwandel. Schleswig-Holsteins prekäre Existenz als deutscher Gliedstaat, in: Demokratische Geschichte 25(2014), S. 251-284
Einzelnachweise
- ↑ Lubowitz, Frank: Wilhelm Käber. Regierung und Opposition (Kiel 1986), S.
- ↑ Brauer vertraut auf Stärke der westlichen Demokratie, Die Neue Zeitung, 5.7.1950
- ↑ Fischer, Rolf: Hermann Lüdemann und die deutsche Demokratie (Neumünster 2006), S. 162 f.
- ↑ Carlo Schmid, zit. bei Fischer, Rolf: Hermann Lüdemann und die deutsche Demokratie (Neumünster 2006), S. 169
- ↑ Theodor Eschenburg: Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933-1999 (Berlin 2002), S. 129 f.
- ↑ Lubowitz, Frank: Wilhelm Käber. Regierung und Opposition (Kiel 1986), S.
- ↑ Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 13. Dezember 1949
- ↑ Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 29
- ↑ Steffen: Der Landeshaushalt müßte viermal so groß sein, Kieler Nachrichten, 28.1.1971
- ↑ Narjes gegen Nordweststaat, Kieler Nachrichten, 5.2.1971
- ↑ Landesparteitag 1973, Eckernförde: Neugliederung des Bundesgebietes. (1973)
- ↑ Warum die Bundesländer aufgelöst werden sollten, Die Welt, 14.2.2010
- ↑ Vgl. Plenarprotokoll vom 22.2.2012
- ↑ Fischer, Rolf: Hermann Lüdemann und die deutsche Demokratie (Neumünster 2006), S. 163
- ↑ Gemeinsamer Ausschuss: Zwei Länder rücken zusammen, Der Landtag 3/2016, S. 3