Schleswig-Holsteinische Volkszeitung
Die "Schleswig-Holsteinische Volkszeitung", landläufig auch "Kieler Volkszeitung" oder kurz "VZ" genannt, war eine sozialdemokratische Zeitung, gegründet 1877 durch die Sozialistische Arbeiter-Partei (SAP) als Reaktion auf das Bismarck'sche Sozialistengesetz. Herausgegeben wurde die Zeitung in Kiel von einer eigens gegründeten Genossenschaft unter dem Vorsitz von Stephan Heinzel. Sein Stellvertreter wurde der Zigarrenfabrikant H. Dieckmann. Die Redaktion übertrug man dem Druckereimitarbeiter Reinhard Berard aus Altona. Die Zeitung erschien am Dienstag, am Donnerstag und am Sonnabend.[1]
Die Volkszeitung wurde schon im folgenden Jahr unter dem Sozialistengesetz verboten und erst 1893 wiederbegründet.[2] 1933 wurde sie von den Nationalsozialisten erneut verboten.
Die Lizenz für die Herausgabe der VZ erhielt Karl Ratz 1945 von der britischen Militärregierung. Am 3. April 1946, kurz nach dem 1. Bezirksparteitag der wiederbegründeten SPD Schleswig-Holstein, erschien sie wieder, getragen von der "Konzentration", der von Fritz Heine geleiteten Dachorganisation aller SPD-Zeitungen, und vom Landesverband Schleswig-Holstein, vertreten durch Landesgeschäftsführer Gerhard Strack. Vorsitzender der Gesellschafter war zunächst Andreas Gayk, ab 1954 Walter Damm. Zuletzt wurde die VZ in enger Kooperation mit dem Lübecker Morgen produziert.
Die "VZ", zuletzt "VZ - Kieler Morgenzeitung", war bis in die Nachkriegszeit hinein selbstverständlicher Bestandteil vieler sozialdemokratischer Haushalte. Seit Beginn der 50er Jahre schrumpfte allerdings, wie bei fast allen SPD-eigenen Zeitungen, die Abonnentenbasis, da jüngere Parteimitglieder andere Formen und Inhalte verlangten und sich nicht mehr verpflichtet sahen, eine Parteizeitung zu halten.[3] 1961 nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf, weil über längere Zeit gegenüber den Anzeigenkunden die Auflage massiv geschönt worden war.[4] Schließlich wurde eine Einstellung unvermeidlich.
Chefredakteure
Name | von | bis | Bemerkung |
---|---|---|---|
Reinhard Berard | 1877 | 1878 | aus Altona |
Eduard Adler | 1900 | 1918 | |
Karl Böttcher | um 1925 | ||
Hans Schimpfke | vor 1953, wie "ca. ein Dutzend anderer"[5] | ||
Fritz Przytulla | 1953 | 1954 | aus Berlin |
Karl Rickers | 1954 | 1968 |
Mitarbeiter / Mitarbeiterinnen
Wilhelm Brecour, erster Chronist der Kieler SPD, war von 1893 bis 1931 Mitarbeiter der Zeitung, als Expedient, Prokurist, Redakteur und "ständiger Mitarbeiter"[6]. Von März 1919 bis Dezember 1921 war der Maler und Grafiker Hans Ralfs freier Mitarbeiter des Feuilletons, ab 1926 Andreas Gayk unter anderem Lokalredakteur und Karl Rickers als Mitarbeiter.
Zu den Beschäftigten der VZ nach dem Krieg gehörten u. a. als Verlagsleiter zunächst Karl Ratz, später Hein Wulff, Prokurist Alfred Wind, Erste Sekretärin Friedel Lühmann (die danach noch einige Jahre das Archiv der "Kieler Nachrichten" leitete), seit 1946 Lokalchef (oft faktisch als Chefredakteur einspringend) Karl Rickers, Lokalredakteur Günter Martens, Lokalredakteur Fritz Thiele, Feuilletonchef Alexander Kus, seit 1947 Feuilletonredakteurin Susanne Materleitner, Wirtschaftsredakteur Dr. Walther Girnth, Provinzialredakteur Erich von Lojewski, Glossist Hans Schimpke, die Journalisten Dr. Werner Wien und Alfons Neukirchen, als Berater und Leitartikler einige Jahre Prof. Dr. Michael Freund.
Einer der letzten neuen Redakteure war der Leitartikler Jochen Steffen, damals schon Landesvorsitzender, über den Chefredakteur Karl Rickers schreibt:
- "Meine Bedenken gegen Jochen als Parteivorsitzenden kollidierten nicht mit der Absicht, ihn als Journalisten zu engagieren. [...] Mir schien es wichtig und nützlich, einen politischen Denker von diesen Graden als Leitartikler zu haben. Jochen Steffen verkörperte eine neue Generation in der Politik, eine Generation, die nicht mehr - wie wir in der Weimarer Republik Aufgewachsenen - bedingungslos auf Reformpolitik und Kompromiß setzte. Steffen und ich kamen in dieser vielleicht nicht einfachen Konstellation gut miteinander zurecht. [...] Seinen rüden Ton aber wußte ihm Susanne Materleitner wegzuredigieren, und Jochen schätzte diese Art Mitarbeit.[7]
Ende der VZ
Anfang Dezember 1968 meldete dpa die bevorstehende Einstellung der VZ zum 1. März 1969, unter Berufung auf den erst im April 1968 eingesetzte Verlagsleiter Dr. Emil Bandholz. Als Grund habe er "das Ausbleiben der erforderlichen Zuschüsse von der SPD" genannt.[8] Um nicht die letzten zu sein, die die eigene Schließung meldeten, entschloss sich die VZ zur Veröffentlichung, obwohl eine offizielle Entscheidung der Gesellschafter nicht vorlag. Rickers scheint von einem Missverständnis auf Bandholz' Seite auszugehen.[9]
Emil Bandholz wurde fristlos gekündigt, mit der Begründung, er habe "widerrechtlich und eigenmächtig die Einstellung der VZ Kiel verkündet. Dadurch sind [...] Pläne über andere Möglichkeiten bezüglich des traditionsreichen Blattes hinfällig geworden, bzw. aufs schwerste gefährdet. Der [...] entstandene Schaden ist nicht wieder gutzumachen. Als neuer Geschäftsführer wurde Herr Wilhelm Geusendam, Lübeck, berufen."[10]
Die VZ-Belegschaft solidarisierte sich mit Emil Bandholz und trat am 18.12.1968 in den Streik; die öffentliche Mitteilung wurde unterzeichnet von Klaus Holderbaum, Hermann Rügge, Ernst Wolter, Alfred Voigt und Paul Grüning. Die Redaktion, vor allem Chefredakteur Rickers, stand zwischen den Positionen, brachte für beide Seiten Verständnis auf und verhielt sich daher neutral.[11] Landesvorsitzender Jochen Steffen sah sich in einer Betriebsversammlung heftiger Kritik ausgesetzt, weil sich die SPD öffentlich für die Sicherung von Arbeitsplätzen einsetze, hier aber kurzfristig Leute in die Arbeitslosigkeit schicke.[12]
Nach einiger Verwirrung, zahlreichen Solidaritätsbekundungen aus ganz Deutschland und einigen Krokodilstränen politischer Gegner[13] wurde die VZ bereits zum 31.12.1968 eingestellt. Sie verabschiedete sich von ihren Leserinnen und Lesern mit einer vollen letzten Ausgabe.[14]
Literatur
- Bigga, Regine /Danker, Uwe: Die Schleswig-Holsteinische Volkszeitung 1892 bis 1968. Facetten aus ihrer Geschichte. In: Demokratische Geschichte 3 (1988), S. 427-436
- Haese, Ute / Prawitt-Haese, Torsten: Die Kieler Presse in den Nachkriegsjahren. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Band 79, Heft 3, S. 81-128
- Rickers, Karl: Erinnerungen eines Kieler Journalisten 1920-1970 (Neumünster 1992)
- Rickers, Karl: Die neue Volks-Zeitung von 1946-50. In: Arbeitskreis Demokratische Geschichte (Hrsg.): Wir sind das Bauvolk. Kiel 1945 bis 1950 (Kiel 1985)
- Wind, Hans: Gedanken zur Volks-Zeitung. In: Arbeitskreis Demokratische Geschichte (Hrsg.): Wir sind das Bauvolk. Kiel 1945 bis 1950 (Kiel 1985)
Links
Quellen
<references>
- ↑ Fischer, Rolf: "Der Bahn, der kühnen, folgen wir ...". Stephan Heinzel und der Aufstieg der Kieler SPD (Malente 2010), S. 51
- ↑ Fischer, Rolf: "Der Bahn, der kühnen, folgen wir ...". Stephan Heinzel und der Aufstieg der Kieler SPD (Malente 2010), S. 92
- ↑ [Demokratische Geschichte 17, S. 51], wo die Problematik am Beispiel des "Lübecker Morgens" erläutert wird.
- ↑ Rickers, Karl: Erinnerungen eines Kieler Journalisten 1920-1970 (Neumünster 1992), S. 359 ff.
- ↑ Rickers, Karl: Erinnerungen eines Kieler Journalisten 1920-1970 (Neumünster 1992), S. 325 f.
- ↑ Biographien Sozialdemokratischer Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867-1933
- ↑ Rickers, Karl: Erinnerungen eines Kieler Journalisten 1920-1970 (Neumünster 1992), S. 371
- ↑ "Kieler Nachrichten", 06.12.1968
- ↑ Rickers, Karl: Erinnerungen eines Kieler Journalisten 1920-1970 (Neumünster 1992), S. 385 ff. Dort auch die weitere Entwicklung und mögliche Alternativen aus der Sicht des Chefredakteurs.
- ↑ "Kieler Nachrichten", 20.12.1968
- ↑ Rickers, Karl: Erinnerungen eines Kieler Journalisten 1920-1970 (Neumünster 1992), S. 386
- ↑ "Kieler Nachrichten", 19.12.1968
- ↑ Dr. Lademann, FDP, "Kieler Nachrichten", 21.12.1968; Ministerpräsident Dr. Lemke, CDU, "Kieler Nachrichten", 002.01.1969
- ↑ Rickers, Karl: Erinnerungen eines Kieler Journalisten 1920-1970 (Neumünster 1992), S. 391 f.