Ralf Stegner: Rede zum Parteijubiläum 2013

Aus SPD Geschichtswerkstatt
Version vom 15. Januar 2018, 03:43 Uhr von Skw (Diskussion | Beiträge)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Landesvorsitzender Ralf Stegner eröffnet am 14. November 2012 im Kieler Rathaus die Ausstellung "150 Jahre deutsche Sozialdemokratie. Für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität!:

I.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte zuerst der Friedrich-Ebert-Stiftung zu der hier gezeigten Ausstellung zu 150 Jahre SPD gratulieren. Sie zwingt geradezu zur Auseinandersetzung über den Weg, den die sozialdemokratische Arbeiterbewegung in den zurückliegenden nunmehr eineinhalb Jahrhunderten gegangen ist. Die Exponate zeigen in vielen Facetten, wie sich unsere Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität durch die unterschiedlichen Phasen der deutschen Geschichte ziehen. Und sie zeigen vor allem die vielen Menschen, die diese Geschichte mitgelebt und mitgekämpft haben: Rechtlose und Geknechtete, Mutige und Widerständige, Visionäre und Handfeste.

Zum 125. Jahrestag der Partei 1988 schrieb Willy Brandt im Vorwort zu Bernt Engelmanns SPD-Geschichte "Vorwärts und nicht vergessen":

"Die SPD hat sich in diesen langen Jahren viele Aufgaben auf den Buckel geladen, einige sich aufladen müssen. Nicht alle waren angenehm und unter manchen Lasten hat sie gewankt. Gefallen ist sie selten. Dass sie stets auf’s Neue durchhielt, hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die sozialdemokratische Arbeiterbewegung immer auch Kulturbewegung war. In dieser Eigenschaft hat sie eine ungebrochene Tradition: der nicht bloß politischen Aussage, sondern auch der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung."

Wenn wir das 150. Parteijubiläum begehen, sind wir stolz auf unsere Partei und ihre Geschichte, und wir werden natürlich auch ordentlich feiern. Worauf es mir darüber hinaus vor allem ankommt, ist eben, diese Selbstverständigung und Selbstvergewisserung nicht aus den Augen zu verlieren, sondern danach zu fragen, was uns diese Geschichte für die Zukunft mit auf den Weg gibt. Für die Aufgaben, die vor uns liegen.

Wenn Sie mich fragen, was das bedeutendste Exponat dieser Ausstellung sein könnte, fällt mir die Wahl nicht ganz leicht. Alle diese historischen Aufnahmen aus verschiedenen Epochen unserer Geschichte beeindrucken mich sehr. Denn die völlig unterschiedlichen Momentaufnahmen und einzelnen Motive ergeben ja erst als Ganzes die Geschichte der SPD. Und in der Gesamtheit erst erkennt man den Geist, die Identität, das Selbstverständnis der deutschen Sozialdemokratie.

Diese Ausstellung ist hervorragend geeignet, darüber, was Willy Brandt "den Auftrag, der uns anvertraut ist" gemeint hat, nachzudenken.

Die Geschichte der SPD ist eine Geschichte des Kampfes gegen Unrecht, Unterdrückung und Ausbeutung – wo, wie und wann immer wir solchen Zuständen begegnen. Ein Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.

Dabei ist die Identität der SPD immer mehr gewesen als die bloße Addition dieser Grundwerte. Die SPD ist Gerechtigkeitspartei SPD. Dieser Anspruch ist immer mehr gewesen als Verteilungsgerechtigkeit bei Löhnen, Gehältern, Eigentum und Vermögen und ist mehr als gerechte Renten- und Gesundheitssysteme. Ist mehr als Chancengleichheit und Gleichstellung der Geschlechter.

In einer politischen Bewegung, die von den Anfängen bis heute immer auch mit eigenen Irrungen, Wirrungen und Fehlern zu kämpfen hatte, kommt es nicht nur auf die Grundwerte, sondern auch und gerade auf die Grundhaltung an. Haltung beginnt da, wo es weh tut.

Ich denke, die herausragende Grundhaltung, die unsere Partei durch die Geschichte getragen hat, ist, dass wir miteinander streiten, miteinander ringen und uns dann miteinander einigen können. Diese Streit- und Debattenkultur ist immer die Voraussetzung gewesen, um zusammen kämpfen zu können.

Wir haben immer über Kurs und Richtigkeit unserer Politik gestritten und gerungen – so intensiv wie keine andere deutsche Partei. In meinen Augen ist es diese Fähigkeit zur immer wieder neuen Selbstverständigung – also das, was manche gern mal zynisch als "Beschäftigung mit sich selbst" abtun – in Wirklichkeit die innere Kraft,

  • die es der sozialdemokratischen Bewegung ermöglicht hat, nach Verboten, Verfolgungen, Sozialistengesetzgebung, zwei Weltkriegen und Nazidiktatur immer wieder neu aufzustehen;
  • die es uns ermöglicht hat, immer wieder auch nach Fehlern, wie in den Anfängen der Weimarer Republik oder z. B. in diesem Jahrhundert nach dem Zurückweichen der Sozialdemokratie vor der neokonservativen Revolution Reagans und Thatchers, immer wieder einen neuen Ansatz zu suchen, die uns immer wieder den Mut zur Öffnung gegenüber neuen Sichtweisen in der Ökologie, in der Atompolitik, in der Gleichstellungspolitik gegeben hat.
  • Und diese Fähigkeit zur Selbstverständigung hat uns schließlich bereit und fähig zu historischen Initiativen gemacht. Dazu zählt die Versöhnungs- und Friedenspolitik Willy Brandts, seine Initiativen dazu, mehr Demokratie zu wagen, aber auch die Ablehnung des Irak-Krieges durch Bundeskanzler Gerhard Schröder. Ja, diese SPD braucht die Freiheit der Auseinandersetzung, der Debatte, des Ringens um den richtigen Weg, wie die Luft zum Atmen. Nur so war es möglich, dass diese Partei nicht nur nie ihre Grundüberzeugung verloren hat, sondern sie immer wieder erneuert und bestärkt hat. Und zwar von Beginn an.

II.

Denn die SPD ist ja in Wahrheit zweimal gegründet worden. Sie ist eine Vereinigung aus zwei Parteigründungen:

Der 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein setzte unter Führung von Ferdinand Lassalle auf politische Demokratie und Parlamentarismus zur Überwindung der Not der Arbeiterklasse unter den Bedingungen kapitalistischer Industrialisierung und politischer Unterdrückung im Kaiserreich.

Der ADAV von Ferdinand Lassalle hat deshalb die Durchsetzung des allgemeinen gleichen Wahlrechts zur Lösung der Arbeiterfrage an die erste Stelle seiner Agenda gesetzt:

"Der Arbeiterstand muss sich als selbständige politische Partei konstituieren und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu dem prinzipiellen Losungswort und Banner dieser Partei machen."

Es war ein sozialliberaler Ansatz, der auf politische, demokratische Reformen setzte. Lassalles Grundgedanke, den Kampf für politische Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu verbinden, wurde zu einer Leitidee der gesamten sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Nur etwa ein Jahr stand Lassalle an der Spitze des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV). Aber seine Initiativen und Ideen wirkten - auch wegen seines frühen Todes - weiterhin mobilisierend. Die charismatische Ausstrahlung Lassalles wird deutlich im Text der Arbeiter-Marseillaise: "Der Bahn, der kühnen folgen wir, die uns geführt Lassalle", heißt es dort.

Sogar sein 'Konkurrent' August Bebel anerkannte 1873, fast zehn Jahre nach Lassalles Tod, "dass die Lassalleschen Schriften tatsächlich [...] durch ihre populäre Sprache die Grundlage der sozialistischen Anschauungen der Masse bilden."

Die zweite Grundströmung der SPD, die zweite Parteigründung, war die 1869 in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei unter Führung eben jenes August Bebel. Die Eisenacher waren marxistisch geprägt, hatten einen klassenkämpferisch-revolutionären Ansatz.

So sagte Bebel auf einem SPD-Parteitag in Dresden, er wolle "der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und Staatsordnung bleiben, um sie in ihren Existenzbedingungen zu untergraben", und sie, wenn er könne, beseitigen.

Die Vereinigung beider Parteien zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands erfolgte im Mai 1875 in Gotha mit einem "zwitterhaften" Einigungsprogramm, wie Marx und Engels aus London verzweifelt kommentierten. Egal, die Vereinigung war in den Augen der meisten Delegierten in Gotha das Wichtigste.

Was folgte, war ein 12jähriges Parteiverbot, Verfolgung und Unterdrückung in der Zeit der Bismarckschen Sozialistengesetze. Sofort nach der Aufhebung des Parteiverbots gründete sich im Oktober 1890 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, wie sie sich von da an nannte, und beschloss ein Jahr später das bemerkenswerte Erfurter Programm. Im ersten Teil eine marxistisch-revolutionäre, klassenkämpferische Gesellschaftsanalyse und Umsturzprogrammatik, im zweiten Teil dagegen ein pragmatisches Zehn-Punkte-Reformprogramm für die Tagespolitik.

Dieses Spannungsfeld, damals zwischen Reform und Revolution, lebt fort heute als die Spannung zwischen dem radikalen Veränderungswillen des linken Parteiflügels und dem Tagespragmatismus auf dem rechten Flügel. Diese Spannung prägt die Debatten der Sozialdemokratie bis heute.

Immer schon gab es diese konkurrierenden Flügel in der SPD. Beide haben den Charakter der SPD geprägt. Nach dem Bismarckschen Sozialistengesetz war das der Grundstein dafür, dass die SPD nach 1890 eine Massenpartei, heute sagen wir, eine Volkspartei wurde.

III.

Ein bekanntes Zitat von August Bebel, das dieses Spannungsfeld widerspiegelt, lautet: "Die SPD ist eine revolutionäre Partei, aber keine Revolution machende Partei".

Ich würde es heute so sagen:

1. Die Empörung und die Wut gegen Unrecht und Ungerechtigkeit ist eine prägende Grundhaltung und Triebkraft der SPD immer gewesen und immer geblieben. Immer wieder haben sich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mutig und entschlossen gegen herrschende Verhältnisse aufgelehnt:

  • In Kiel haben die Sozialdemokraten den Matrosenaufstand unterstützt, die die Freilassung ihrer Kameraden forderten.
  • Aber auch an dem Tag, an dem die Weimarer Demokratie endgültig von ihren Feinden bezwungen wurde, traten die verbliebenen SPD-Reichstagsabgeordneten den Nazis entgegen. Die Rede von Otto Wels im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz der Nazis ist eine der mutigsten, die je gehalten wurden. Er wusste, dass seine Worte ihn in Lebensgefahr brachten.
  • Die aufrechte, unbeugsame Haltung des Lübecker Reichtagsabgeordneten Julius Leber vor Freislers Volksgerichtshof, die er mit seiner Hinrichtung in Plötzensee bezahlte.
  • Das Beispiel des kriegsversehrten ersten Nachkriegs-Vorsitzenden der SPD, Kurt Schumacher, der mit ungebrochener Energie die SPD in Westdeutschland wieder aufbaute. Die Reaktivierung der Partei mit der ältesten ungebrochenen historischen Tradition setzte fast unmittelbar nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft ein. Die Erlaubnis der Militärregierungen zur Bildung von Parteien wurde nicht abgewartet. Bereits am 6. Mai 1945 hielt Kurt Schumacher auf der Versammlung zur Wiedergründung des SPD-Ortsvereins Hannover eine programmatische Rede. "Sozialismus als Gegenwartsaufgabe" – der Aufbau eines in Ruinen liegenden Landes dürfe nicht nach den Prinzipien eines kapitalistischen Regimes erfolgen. Der unbedingte Gestaltungswille der Sozialdemokratie war auch von mehr als einem Jahrzehnt nationalsozialistischer Terrorherrschaft nicht gebrochen worden.

2. Immer ging es darum, diese Wut und Empörung in pragmatische Politik umzusetzen: Viele bekannte sozialdemokratische Persönlichkeiten und hunderttausende unbekannte Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker haben Deutschland aus den Städten und Gemeinden heraus wieder aufgebaut. In Norddeutschland denken wir z.B. an Max Brauer in Hamburg. Wilhelm Kaisen in Bremen. Hinrich Kopf in Hannover. Und natürlich Andreas Gayk in Kiel. Andreas Gayk hat als Kieler Oberbürgermeister den Wiederaufbau der Stadt Kiel nach 1945 entscheidend geprägt. Und auch heute ist das Rathaus, in dem wir uns befinden, wieder fest in roten Händen: Erst am Sonntag wurde die Sozialdemokratin Susanne Gaschke zur neuen Kieler Oberbürgermeisterin gewählt. Bis auf eine einzige Ausnahme ist Kiel damit seit 1946 durchgehend SPD-regiert.

Sehr geehrte Damen und Herren,

nach drei Jahrzehnten konservativer Restaurierung und Erstarrung haben von 1969 bis 1982 zwei große sozialdemokratische Bundeskanzler Deutschland herausragend gut regiert, nämlich Willy Brandt und Helmut Schmidt.

Willy Brandt ist für mich der bedeutendste sozialdemokratische Politiker überhaupt, weil er in seiner Politik nicht nur die Empörung und den Pragmatismus verknüpft hat, sondern dabei weit über den Horizont hinaus gedacht hat.

Ein leidenschaftlicher und mitfühlender Kämpfer gegen Ungerechtigkeit. Das gilt auch für seine internationale Rolle, die er gemeinsam mit Olof Palme und Bruno Kreisky nicht nur in der sozialistischen Internationale eingenommen hat. Er hat uns auch immer wieder in der Nord-Süd-Frage leidenschaftlich den Spiegel vorgehalten, was arm und reich in dieser Welt bedeutet.

Pragmatisch beim Durchsetzen, was er innere Reformen nannte: Unternehmensmitbestimmung, Bildungsreformen, Mietrechtsreformen, Vermögensbildung. Sein Mut zu einer großen historischen Initiative, der Friedens- und Entspannungspolitik, die den Weg zur späteren deutschen Einheit bahnte.

Die SPD ist aber nicht nur eine Partei der Kontroversen und der großen Persönlichkeiten, sondern auch eine Partei mit besonderen regionalen Ausprägungen und Besonderheiten, die ihre Geschichte wesentlich beeinflusst haben. Eine Partei mit stolzen Landesverbänden, von denen jeder ein Stück eigene politische Kultur hat. Da diese Ausstellung jetzt hier im Norden Station macht, ist es sicher angebracht, besonders darauf hinzuweisen, dass der Landesverband Schleswig-Holstein einer ist, der in der Geschichte der SPD stets eigene inhaltliche Akzente gesetzt hat: Da war der Marxist Jochen Steffen, der seinen Landesverband zu einer wahren Programmpartei geformt hat. Bis heute ist dies sein Erbe, das die schleswig-holsteinische SPD weiterführt.

Da war Günther Jansen. Ich habe persönlich nie einen leidenschaftlicheren Politiker und Anwalt der kleinen Leute erlebt als ihn. Er stand für den frühen Kurswechsel der Nord-SPD in der Atompolitik und für eine Sozialpolitik, die diesen Namen wirklich verdient.

Björn Engholm, den wir am Sonntag in Lübeck für 50jährige Mitgliedschaft in unserer Partei geehrt haben, war nach 38 Jahren CDU-Herrschaft im Norden so ein ganz anderer Ministerpräsident.

"Zeit zum Aufklaren" war damals das Signal für einen progressiven Aufbruch ohnegleichen bei der Bildungspolitik und Gleichstellungsfragen, bei der Sozialpolitik, bei der Mitbestimmung, bei der Umwelt- und Energiepolitik und einer liberalen Innen- und Rechtspolitik. Gerade er hat die SPD in seiner Zeit auch als Parteivorsitzender im Bund für Wählerschichten geöffnet, die bisher unerreichbar schienen - ohne dabei inhaltliche Schärfe oder Profil zu verlieren. Ganz im Gegenteil.

Da gab es Heide Simonis, sie war die erste deutsche Ministerpräsidentin, eine immer eigenwillige und oft forsche Sozialdemokratin mit großer Leidenschaft – auch noch nach ihrem Ausscheiden aus der Politik – die z. B. für das Schicksal benachteiligter Kinder eingetreten ist.

Als Landesvorsitzender sage ich besonders gerne: Links, dickschädelig und frei – in der Tat: diese Charakterisierung passt zu uns. Sie ist und bleibt ein unverwechselbarer Teil, den die Nord-SPD in diese vielfältige linke Volkspartei, die deutsche Sozialdemokratie mit einbringt.

IV.

Was nehmen wir nach 150 Jahren mit in die Zukunft? Wie beschreiben wir heute "den Auftrag, der uns anvertraut ist" (Brandt)? Ich will vier der für mich wichtigsten Punkte kurz beschreiben:

  • Wir sind und wir müssen Gerechtigkeitspartei bleiben. Willy Brandts Credo, dass Politik nur etwas taugt, wenn sie das Leben der Menschen besser macht, zielt genau auf die ab, die uns brauchen, die auf uns setzen, die uns aber nur vertrauen, wenn wir das ernst meinen mit der Gerechtigkeit als Maßstab und Kompass unserer Politik. In den letzten zehn Jahren haben wir in der SPD fundamentale Kontroversen, Irrungen und Wirrungen erlebt. Aber das Bewusstsein, dass dieses Eintreten für die sozial Schwächeren zur unverhandelbaren Identität der Sozialdemokratie gehört, ist mittlerweile wieder zurück im Zentrum der SPD. In Schleswig-Holstein – das können wir sagen - war das übrigens immer der Fall. Etwas salopp: Wenn Revolution heute keine sinnvolle Option ist, dann aber eine konsequente, mutige und linke Reformpolitik, wo es um Gerechtigkeit und Zukunft geht. Bei Arbeitsmarkt, Bildung, Energie, Gleichstellung. Und: Mehr Konfliktbereitschaft, wenn es darum geht, diesen verdammten Raubtierkapitalismus (H. Schmidt) in die Schranken zu weisen.
  • Aufstieg durch Bildung. Unsere heutige politische Leitlinie der Chancengleichheit im Bildungssystem hat eine lange Tradition – immerhin wurde die SPD damals aus den Arbeiterbildungsvereinen heraus gegründet. Die Bildungsexpansion unter dem Motto Aufstieg durch Bildung, die die Sozialdemokratie ab Mitte der 1960er Jahre formulierte und die dann mit Nachdruck unter den Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt durchgesetzt wurde, hat das Leben vieler Menschen nachhaltig verändert: Die Universitäten öffneten sich und durch die Einführung des BaföG im Jahre 1971 wurden finanzielle Barrieren abgebaut. Es sind nicht wenige SPD-Mitglieder und Sympathisanten, die ihre Verbundenheit mit der SPD in dieser Phase verorten. Viele von ihnen profitierten von dieser sozialdemokratischen Bildungsidee. Und auch heute ist die Idee, dass Herkunft kein Schicksal sein darf, immer noch Leitlinie sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik. Deshalb setzen wir uns für längeres gemeinsames Lernen und kostenlose Bildung von der Kita bis zum Studium ein. Bildung entscheidet über Lebenschancen. Das gilt mehr denn je! Es ist eine der zentralen Gerechtigkeitsfragen unserer Zeit.
  • Glaubwürdigkeit. Dass wir uns bei unserer praktischen Politik auf ein Wertefundament beziehen, führt dazu, dass auch die Ansprüche an die SPD höher sind als an andere Parteien. Was man anderen durchgehen lässt, lässt man Sozialdemokraten nicht durchgehen. Wir müssen das sagen, was wir tun. Und tun, was wir sagen. Wir sind keine besseren Menschen. Aber die Menschen, die uns vertrauen und wählen, erwarten, dass wir unser Bestes geben. Wir erleben zurzeit, wie schwer es ist und wie lange es dauert, Glaubwürdigkeit zu gewinnen, wenn einem die Menschen das Vertrauen einmal entzogen haben. Glaubwürdigkeit, sagt Erhard Eppler, ist das Wichtigste.
  • Die lebendige Volkspartei braucht die kontroverse Auseinandersetzung mit sich und anderen. Auseinandersetzung darüber, welche Politik mit unseren Werten und Überzeugungen im Einklang steht und welche eben auch nicht. Am schlechtesten ging es der Sozialdemokratie in ihrer 150-jährigen Geschichte immer dann, wenn wir aufgehört haben, miteinander zu diskutieren. Die Auseinandersetzung miteinander, aber auch mit unseren Bündnispartnern (Gewerkschaften, Falken, AWO ...) über die richtige Politik ist das Lebenselixier einer sozialdemokratischen Programm- und Zukunftspartei.

V.

Diese Ausstellung zum 150-jährigen Parteijubiläum der SPD zeigt, die Beschäftigung mit sozialdemokratischer Geschichte ist kein Selbstzweck. Nur wer weiß, wo er herkommt, kann auch wissen, wohin er will. Viele der grundsätzlichen Forderungen, für die die SPD in ihrer Geschichte eingetreten ist, sind auch heute noch von hoher Aktualität. In der Entstehungszeit der Arbeiterbewegung fanden große Umbrüche auf dem Weg zur Industriegesellschaft statt, die mit ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen einhergingen. Und auch heute ist der Kampf gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse eines der Kernanliegen der SPD: Die Lebenshaltungskosten steigen, die Löhne stagnieren. Einem Abschluss, einer Ausbildung folgt immer seltener der Einstieg in den Beruf, oft erst einmal nur Praktika oder Kettenbefristungen zu untertariflichen Löhnen. Auch alle, die es nicht am eigenen Leib spüren, wissen es doch von Kindern und Enkeln aus erster Hand. Darum setzen wir uns für ordentliche Löhne und anständige Arbeitsbedingungen ein, gegen sachgrundlose Befristungen und die Auswüchse bei den Praktika, einen gesetzlichen Mindestlohn und für gleichen Lohn für gleiche Arbeit bei Männern und Frauen. Dies erinnert mich daran, dass wir den sog. Bürgerlichen Parteien immer sagen müssen: Es war und ist die SPD, die die meisten Bürgerrechte erkämpft hat. Vom allgemeinen und gleichen Wahlrecht über die Gleichstellung von Frauen und Männern, und das wird auch für das Thema gleicher Lohn bei gleicher Arbeit gelten. Die historische Dimension des eigenen Handelns zu befragen, das bedeutet für die SPD, bei jedem politischem Schritt zu bedenken:

Welche Folgen hat das für die Zeit, in der wir leben, und welche möglichen Auswirkungen hat das über unsere Grenzen und unsere Zeit hinaus? Es gibt Entscheidungen, beispielsweise in der Atompolitik die Frage der Endlagerung, von denen wir wissen, dass die Konsequenzen weit in die Zukunft reichen. Wir müssen Verantwortung übernehmen für heute und für morgen.

Denn sozialdemokratische Politik ist immer auch eine Politik der Verantwortung gewesen: Der Verantwortung für künftige Generationen, für den Planeten, auf dem wir leben, und auch für alle Menschen jenseits der Grenzen Deutschlands und Europas.

Die SPD war und ist immer eine sehr patriotische Partei gewesen. Der Vorwurf der Konservativen, wir seien "vaterlandslose Gesellen", hat der Partei geradezu das Paradigma eingebläut: Erst kommt das Land, dann kommt die Partei! Das ist eine ehrenvolle Haltung, mehr als respektabel, aber wenn man die einzige Partei ist, die so handelt, oft auch Ursache für bittere Niederlagen. Gerade in der sozialdemokratischen Diaspora habe ich oft den Eindruck, dass viele Genossinnen und Genossen schon zufrieden sind, wenn die Konservativen nett zu ihnen sind. Die nur halb scherzhafte Zuschreibung, dass wir bürgerlichen Vorbildern nacheifern und man nur so lange SPD wählen könne, bis man ein Einfamilienhaus besitzt, oder das Bonmot "Wer als Jugendlicher nicht links ist, hat kein Herz, wer als Älterer noch links ist, hat keinen Verstand" beschreibt durchaus einen verbreiteten Aggregatszustand dieser Sozialdemokratie.

Dennoch sage ich mit Leidenschaft, das ist ganz falsch! Man kann, das zeigt die Ausstellung, das zeigt die Geschichte der SPD und das zeigt nicht zuletzt der große Willy Brandt, der nächstes Jahr 100 Jahre alt geworden wäre – man kann auch leidenschaftliche Haltung, zielorientiertes Streben mit gutem und verantwortlichem Regieren und pragmatischem Tun in dem Sinne verbinden, dass wir uns Schritt um Schritt darum bemühen, das Leben der Menschen in unserem Dorf, unserer Stadt, unserem Land, in Europa und der Welt besser zu machen.

Sucht man das schönste Bild in dieser Ausstellung 150 Jahre SPD, es wäre mit Sicherheit eins, das das Spannungsverhältnis von Grundwerten, Identität und ethischer Überzeugung darstellt. Es ist ein großes Bild, das sich aus vielen kleinen Bildern zusammensetzt. Ein Bild von 150 Jahren Arbeiterbewegung, Persönlichkeiten und für uns alle prägenden Momenten. Es beeindruckt, macht stolz und demütig zugleich.

Die Ausstellung der Friedrich Ebert-Stiftung über die lange Geschichte der Sozialdemokratie lässt deutlich spürbar werden: Die SPD ist einst wie jetzt die Kraft, die unsere Gesellschaft gestaltet – frei, gerecht und solidarisch.

Nicht fehlerfrei, aber immer um überzeugende Antworten ringend – eine einzigartige Partei, diese Sozialdemokratische Partei Deutschlands.