Friedenspolitik
Die Friedenspolitik hat in der SPD Schleswig-Holstein immer wieder eine Rolle gespielt. Zu jeder Zeit hat sich der Landesverband in die Lösung aktueller Konflikte eingemischt und zum Teil deutlichen Einfluss auf die Politik der Gesamtpartei nehmen können.
Der Erste Weltkrieg
Die SPD kritisierte frühzeitig die Aufrüstung der Staaten.
"Auf einer Friedenskundgebung 1909 in Kiel sollten der Engländer Ramsay Macdonald, der Schwede August Nielson, der Däne A.C. Meyer und der Inder Dr. Krisna zur Arbeiterschaft sprechen. Die Polizei verbot ihnen, ihre Muttersprache zu gebrauchen, worauf Macdonalds und Krisnas Reden von Adler und Eduard Bernstein vorgelesen wurden. In der Entschließung der 8000 Teilnehmer wurden 'die fortdauernden Rüstungen und Kriegsschiffbauten aller Staaten' beklagt. 'Besonders die Arbeiter Kiels, des größten Kriegshafens und Flottenarsenals, haben daher allen Grund zu beklagen, daß sie ihr Brot nicht im Dienste segensreicherer Arbeitstätigkeit verdienen können und protestieren daher gegen die Auslassungen der Kapitalistenpresse, die bösartig verschweigt, daß der Kriegsschiffbau die Arbeitergroschen frißt und eine Beschäftigung an Kulturarbeiten für viele Tausende unmöglich macht'."[1]
In den Tagen nach der Mobilmachung zum Ersten Weltkrieg 1914 hielt die SPD Schleswig-Holstein einen Bezirksparteitag ab. Die vom Bezirksvorstand vorgelegte Entschließung wurde von den Delegierten einstimmig angenommen:
"Die Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein hat gemeinsam mit der deutschen Gesamtpartei und den anderen Parteien in Europa ihr Bestes getan, um den drohenden Weltkrieg zu verhindern und eine friedliche politische Entwicklung der Völker zu Wohlfahrt und Freiheit zu sichern. Wir stellen fest, daß unsere Partei keine Schuld an dem Verderben trifft, das da über die Welt ziehen will; die Verhältnisse dieser kapitalistischen Zeit und deren Konsequenzen waren stärker als die Arbeit unserer Millionen und der Friedenswille mancher Regierenden."[2]
SPD und Gewerkschaften waren gegen den Krieg, aber als er begonnen hatte, ließen sie sich überzeugen, dass das Deutsche Reich in einem Verteidigungskrieg stehe:
"Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. [...] Wir fordern, daß dem Krieg, sobald das Ziel der Sicherung erreicht ist und die Gegner zum Frieden geneigt sind, ein Ende gemacht wird, das die Freundschaft mit den Nachbarvölkern ermöglicht."[3]
Sie wollten keine Eroberungen, aber auch nicht erobert werden - eine schwierige Gratwanderung. Außerdem saß ihnen der Vorwurf der Konservativen im Nacken, ihre Bewegung bestünde aus "vaterlandslosen Gesellen". Sie schlossen einen "Burgfrieden" mit dem Klassenfeind, der auf der stillschweigenden Erwartung beruhte, dass ihre patriotische Haltung durch die Anerkennung als gleichberechtigter Partner in der Reichspolitik honoriert werden würde.
Als zwei Tage nach dem Bezirksparteitag die Reichstagsfraktion den beantragten Kriegskrediten zustimmte, stand der Bezirk zunächst an ihrer Seite. Der Kieler Reichstagsabgeordnete Carl Legien begründete auf einer SPD-Reichskonferenz 1916 seine Haltung:
"Wir haben uns in Deutschland eine Arbeiterkultur geschaffen, wie sie in keinem Land der Welt besteht. Diese Kultur wollen wir der Arbeiterschaft erhalten. Auf der Grundlage dieser Kultur wollen wir den Sozialismus erobern. Der Sozialismus ist keine reife Frucht, die man aus dem einen Lande ins andere tragen kann. Wir müssen ihn im eigenen Lande herbeiführen."[4]
Einige überzeugte Pazifisten unter den Sozialdemokraten, zum Beispiel der Kieler Bill Meitmann, flohen vor dem Kriegsdienst ins Ausland.
Mit dem Fortgang des Krieges brach jedoch überall im Reich der "Burgfrieden"; es wurde deutlich, dass die Arbeiterbewegung und ihre Vertreter nicht als gleichberechtigte Partner akzeptiert wurden und dass herrschende Kreise in Politik und Militär nicht bereit waren, auf Eroberungen in diesem Krieg zu verzichten. Ab dem Jahr 1916 wuchs die innerparteiliche Kritik. Im März 1917 kam es zur Spaltung in Mehrheits-SPD und Unabhängige SPD. Hochburgen der USPD in Schleswig-Holstein wurden Kiel, Bordesholm, Altona, Flensburg, Schleswig und Eckernförde.[5]
Der Zweite Weltkrieg
Wie auch SPD-Mitglieder sich gegen die Herrschaft der Nationalsozialisten stellten, dazu vgl. den Eintrag Widerstand in der NS-Zeit. "Friedenspolitik" war allerdings angesichts des Verbots der SPD und des von Hitler angestrebten Eroberungskrieges unmöglich; viele Menschen aus der Arbeiterbewegung haben in diesem Krieg Leben, Gesundheit oder Angehörige verloren. Trotzdem waren sie unter den ersten, die sich für den Wiederaufbau der eigenen Organisation und des Landes zur Verfügung stellten und die Aussöhnung mit den angegriffenen Völkern anstrebten.
Der Kalte Krieg
In der Zeit nach NS-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg spielte zunächst der Ost-West-Konflikt eine bestimmende Rolle. Als die Bundeswehr 1955 geschaffen wurde, wollte CDU-Bundeskanzler Adenauer sie mit Atomwaffen ausrüsten. Es formierte sich Widerstand in der Bevölkerung. Die Frage stand etwa im Mittelpunkt einer Konferenz der Falken vom 17. bis 19. Juli in Kiel. Die große Mehrzahl der jungen Delegierten lehnte einen deutschen Wehrbeitrag entschieden ab.[6]
1957 gründete sich die Kampagne "Kampf dem Atomtod" - die SPD war dabei, auch in Schleswig-Holstein. Landesausschussvorsitzender der Kampagne war seit 1959 Hans-Ulrich Brand. Der Landesparteitag 1958 verabschiedete folgende Entschließung:
"1. Der Bezirksvorstand wird beauftragt, den Parteivorstand aufzufordern, alle politischen Kräfte zu sammeln, die bereit sind, den verhängnisvollen Kurs Adenauers zu bekämpfen. Die Ablösung der Regierung Adenauers muß das Ziel sein. Die Zusammenarbeit in den Ländern sollte angestrebt werden.
2. Die Landtagsfraktion soll mit den Vertretern der FDP und des BHE Verhandlungen über eine Ablösung des derzeitigen Landeskabinetts führen. Dabei muß sichergestellt werden, daß diese Zusammenarbeit in der Regierung vor allem auch nach der Landtagswahl 1958 beibehalten wird und Stimmverluste infolge der Wahlvorschriften nicht eintreten können.
3. Angesichts der drohenden Gefahren, die sich aus der Politik der Bundesrepublik ergeben, appelliert der Parteitag an die Parteien des Landtages, sich der Aufgabe einer Änderung der politischen Kräftebildung nicht zu verschließen und die notwendigen Folgerungen aus den Beschlüssen des Bundestages zur atomaren Aufrüstung zu ziehen.
4. Ein Friedensblock der freiheitlichen antikommunistischen Parteien sollte unter Zurückstellung parteipolitischer und parteitaktischer Fragen dafür kämpfen, daß die Deutschen weder aus russischer noch aus amerikanischer Hand Atomwaffen zu nehmen brauchen."[7]
Ein weiterer Faktor des Ost-West-Konflikts war die deutsche Teilung. Die SPD Schleswig-Holstein war eine der treibenden Kräfte in der Deutschlandpolitik, die auf Egon Bahrs Konzeption des "Wandels durch Annäherung" basierte[8]. Die Eutiner Entschließung unterstützte bereits 1966 diesen Kurs. Mit ihr gab die Landespartei der Diskussion über den Umgang mit der DDR innerhalb der Gesamtpartei einen starken Impuls.
Egon Bahr erklärte 1988 - ein Jahr vor dem Fall der Mauer - im Rückblick den "sensationellen" Charakter des Beschlusses von Eutin:
"Das wirklich Großartige an 'Eutin eins' ist, daß die drei formulierten Ziele: Kontakte zwischen den Menschen, militärische Entspannung und wirtschaftliche Zusammenarbeit im inneren Zusammenhang dieser drei Faktoren gesehen wurden. Deutsch-deutsche Sicherheit und Ost/West-übergreifende Wirtschaftsstrukturen gehören zusammen. So weit ist die CDU bis heute noch nicht, wenn man ihr neues Papier zur Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik ansieht, obwohl sie wenigstens einigen Nachholbedarf gedeckt hat."[9]
Im Frühjahr 1972 ergriff Jochen Steffen die Initiative für eine deutsch-dänische Konferenz zum Thema Friedenspolitik. Gäste waren der dänische Regierungschef Jens Otto Krag und Bundeskanzler Willy Brandt. Entspannung war in der Ostpolitik mittlerweile offizieller Regierungskurs geworden. Ihr Architekt Egon Bahr wurde schleswig-holsteinischer Bundestagsabgeordneter.
Der Kieler Hans-Ulrich Wottge erinnert sich:
"Es war ein großes Erlebnis, an dem Demonstrationszug zur Ratifizierung der Ost-Verträge teil zu nehmen. Es war mein erstes reales politisches Engagement in Kiel nach meinem Wechsel aus der damaligen studentischen roten Hochburg Marburg nach dem noch ruhenden Kiel. Wir zogen unter Führung von Gansel als 'Sandwiches'(=Plakat vorne und hinten) zum Vineta-Platz zu einer Ansprache vom 'roten' Jochen. Auf dem Weg dorthin skandierten wir pausenlos unter den Megafonrufen von Norbert: 'und wenn der Barzel noch so hetzt, Ratifizierung jetzt.'"
Bundeskanzler Schmidt und die Friedensbewegung
1979 fand in Burg auf Fehmarn ein Landesparteitag im Zeichen der Friedenspolitik statt.
In den Auseinandersetzungen über den NATO-Kurs der Regierung von Helmut Schmidt Anfang der 1980er Jahre war die SPD Schleswig-Holstein Teil der Friedensbewegung. Sie rief mit zu den Friedensdemonstrationen auf[10] und forderte dafür schulfrei[11]. Klaus Matthiesen, Vorsitzender der Landtagsfraktion, sagte: "Ich glaube, wir schlittern in eine Protestbewegung hinein, die weit größere Ausmaße annehmen dürfte als die von 1968."[12]
Auf dem Landesparteitag 1981 in Harrislee wurde eine Resolution zur Ächtung der Neutronenwaffe[13] beschlossen. Für diesen Kieler Aufruf sammelte die Partei allein in Schleswig-Holstein 40.000 Unterstützerunterschriften.
"'Ich glaube', sagte [...] Klaus Matthiesen, 'wir schlittern in eine Protestbewegung hinein, die weit größere Ausmaße annehmen wird als die von 1968.' Aber diesmal sind es nicht nur die Jungen, die protestieren, sollen sie es jedenfalls nach dem Willen der Aktiven nicht allein sein."[14]
1981 reisten die Jusos unter ihrem Bundesvorsitzenden und späteren SPD-Landesvorsitzenden Willi Piecyk in die DDR und die UdSSR, um über Abrüstung zu sprechen. Der Landesparteitag 1981 fasste einen umfangreichen Beschluss zur Entspannungs- und Abrüstungspolitik. Darin hieß es:
"Die weltweite Aufrüstung ist der Wahnwitz unserer Zeit: Der Hunger in der Welt wächst, aber die Ausgaben für Waffen betragen mehr als 500 Milliarden Dollar im Jahr. Energie und Rohstoffe sind knapp, aber beides wird in der Rüstungsproduktion und in kriegerischen Auseinandersetzungen verschwendet. Die Menschen wollen Frieden, aber die militärischen Großmächte haben genug Atomwaffen, um jedes menschliche Leben auf unserem Planeten 15mal auszulöschen."
Im Kommunalwahlkampf 1982 warb die SPD mit Veranstaltungsreihen wie Lieder gegen den Krieg - Thesen für den Frieden oder Künstler gegen den Krieg — Bilder für den Frieden für ihre Forderung nach Abrüstung. In vielen Städten und Gemeinden beantragten SPD-KommunalpolitikerInnen, ihre Kommune zur atomwaffenfreien Zone zu erklären.
Im August 1983 erhielten die Gliederungen von der Landespartei eine Sammelmappe mit Informationen zu Aktionen rund um die Friedenpolitik. Im Vorwort von Günther Jansen und Landesgeschäftsführer Klaus Rave hieß es:
"'Um des lieben Friedens willen', das ist eine Redewendung, die häufig benutzt wird, wenn jemand seine Ruhe haben will. Wir sind unruhig - um des Friedens willen. Fast vier Jahrzehnte nach Hiroshima ist die atomare Bedrohung durch Äußerungen über die 'Führbarkeit von Atomkriegen' heute realer denn je. Weltweit, in Ost und West, wird weiter an der Rüstungsspirale gedreht - gegen den Willen der Völker. Wir dürfen keine weitere Überdrehung der Rüstungsspirale mitmachen. Das müssen jetzt die Völker ihren Regierungen klar machen: Schluß auf dem Weg zur atomaren Weltvernichtung.
Wir wollen Abrüstung. Jetzt.
Diese 'Friedensmappe' — erstellt von einer Arbeitsgruppe des Landesvorstandes der Schleswig-Holstein SPD - enthält Argumente und Anregungen für Aktionen. Wir dokumentieren die Position des SPD-Landesverbandes Schleswig-Holstein, der schon 1981 ein klares 'Nein' zu jeder weiteren 'Nachrüstung' formulierte und diese Haltung jetzt, am 8. August 1983, nochmals für den anstehenden Landesparteitag wie für den Bundesparteitag bekräftigte. Und eindeutig unsere Zielvorstellungen beschrieb: ein atomwaffenfreies Europa.
Damit befinden wir uns in der Tradition des Grundsatzprogramms der Sozialdemokratie, des Godesberger Programms von 1959 [...]"
Neuordnung nach dem Fall der Mauer
Nach dem Fall der Mauer im November 1989 schien der Ost-West-Konflikt beendet. Die deutsche Außenpolitik machte sich auf die Suche nach einer neuen Linie. Der Europaabgeordnete und Landesvorsitzende Gerd Walter veröffentlichte bereits am 11. Dezember 1989 einen Text mit dem Titel Jetzt ist die Stunde der Abrüstung gekommen, in dem er analysierte:
"Die revolutionären Entwicklungen in Osteuropa und in der Sowjetunion dürfen auch im sicherheitspolitischen Bereich keine Rückkehr zum anachronistischen hochgerüsteten Nationalstaat bringen. Die Stunde der Demokratie, die Stunde Europas muß auch die Stunde der Abrüstung sein, damit wirklicher Frieden verwirklicht wird und wir öffentliche Gelder in großem Umfang für Zukunftsaufgaben mobilisieren können. Das Gemeinsame Haus Europa sieht keine Rolle mehr für bis an die Zähne bewaffnete Wachmannschaften auf den Fluren vor."[15]
Der Landesparteitag 1990 in Büsum beschloss Pläne zur Konversion und sorgte sich vor allem darum, was aus den Kommunen würde, wenn die Bundeswehr nach und nach abgebaut würde:
"Wir wollen rasch deutliche Abrüstungsschritte durchsetzen. Eine stabile gesamteuropäische Friedensordnung ist nur denkbar, wenn eine neue politische Sicherheitsstruktur die bisherige militärische Konfrontation ablöst."[16]
Anfang der 1990er Jahre stand eine Grundgesetzänderung auf der Tagesordnung, die Einsätze der Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebietes der NATO ermöglichen sollte. Björn Engholm, zu dieser Zeit Bundesvorsitzender der SPD, äußerte sich dazu auf dem Bundesparteitag in Bremen 1991:
"Deutsche Soldaten oder Grenzschützer unter den blauen Helmen der Vereinten Nationen, an explosiven Orten in der Welt, zur Sicherung des Friedens durch bloße Anwesenheit, aber nur ja nicht mit Waffen - das passe in sein sozialdemokratisches Weltbild, bekannte Engholm, das sei 'klassische Fortführung unserer Friedenspolitik'. Aber ein Mitmischen bei Schießereien und Kämpfen irgendwo in Afrika, in Südamerika oder im Nahen Osten, nur weil einige Kritiker den Deutschen während des Golfkrieges Feigheit vor Saddam nachgerufen hätten? Egal, ob ein Uno-General Kommando führe oder, wie in Kuweit, ein Amerikaner namens Norman Schwarzkopf - 'das ist nicht meine Position', bekannte Engholm fest."[17]
Im Rechenschaftsbericht 1989-1991 heißt es:
"Am Vorabend des Kriegsbeginns im Irak, am 15. Januar 1991, führte der SPD-Landesverband zusammen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund, Landesbezirk Nordmark, in Kiel eine Friedenskundgebung durch, an der ca. 3000 Menschen teilnahmen. Nach Ablauf des Ultimatums und nach Kriegsbeginn am 16. Januar 1991 beteiligte sich der SPD-Landesverband an verschiedenen Friedensaktionen in Kiel. Gliederungen der Partei führten ihrerseits Aktivitäten durch oder beteiligten sich an solchen Aktivitäten der Friedensbewegung."[18]
Der stellvertretende Landesvorsitzende Willi Piecyk kritisiert die zaghafte Reaktion der Bundes-SPD:
"Die Friedenspartei SPD darf nicht in einen sinnlosen Krieg am Golf hineinschlafen‚ sondern muß die knapp bemessene Zeit nutzen, um in Deutschland eine Antikriegsbewegung zu initiieren. [...] In Kuwait geht es nicht um die Verteidigung oder Wiederherstellung westlich demokratischer Werte, sondern um die Sicherung der ökonomischen Interessen an Öl durch die westlichen Industriestaaten‚ allen voran durch die USA."[19]
In der ersten offiziellen Ausgabe von debatte im Jahr 1997 widmete sich die Landes-SPD dem Thema Wehrpflicht. In zehn Beiträgen wurden die verschiedenen Aspekte von Wehrpflicht, Pflichtarmee, Zivildienst und deren möglicher Abschaffung diskutiert. Auf dem Landesparteitag am 24./25. April 1999 in Reinbek stellten verschiedene Gliederungen Anträge zur Abschaffung der Wehrpflicht - die wurden in den Landesausschuss verwiesen. Der Parteitag fand kurz nach einem historischen Einschnitt statt: Deutschland hatte sich im Kosovo zum ersten Mal seit 1945 wieder an einem Krieg beteiligt. Die Diskussionen auf dem Parteitag waren Anlass für den Landesvorstand, eine "Projektgruppe Friedenspolitik" zu gründen. Sie erarbeitete einen Antrag an den Bundesparteitag. Eckart Kuhlwein berichtete, dass "einige kleinere Passagen aus dem Antrag, so zum Beispiel die verstärkte Kontrolle von Kleinwaffen, übernommen" wurden.[20]
2003 beantragten die Jusos erneut, eine Aussetzung der Wehrpflicht zu prüfen[21], und bekamen die Mehrheit.
Nach dem 11. September 2001
Am 11. September 2001 verübten islamistische Fanatiker vier koordinierte Flugzeugentführungen mit anschließenden Selbstmordattentaten auf wichtige zivile und militärische Gebäude in den USA. Ca. 3000 Menschen kamen dabei ums Leben. Der Tag gilt als Zäsur. Bundeskanzler Gerhard Schröder versicherte den USA die "uneingeschränkte Solidarität" Deutschlands. Bundespräsident Johannes Rau dagegen sagte:
"Hass zerstört die Welt und Hass vernichtet Menschen. Darum geht es überall [...]: Dem Hass zu widerstehen und der Nächstenliebe Raum zu schaffen. Wer nicht hasst, sagt auch Nein zur Gewalt. Wer Nein zu Gewalt sagt, macht das Leben unserer Kinder erst möglich."[22]
Nur knapp einen Monat später, am 13. Oktober 2001, fand ein Landesparteitag in Norderstedt statt. Die Delegierten beschlossen eine Resolution mit dem Titel Kein Kampf der Kulturen, sondern Kampf um die Kultur im 21. Jahrhundert. Die Resolution unterstützte den Krieg in Afghanistan mit der Begründung, "gegen Urheber und Hintermänner, gegen Auftraggeber und Drahtzieher der Attentate und ebenso gegen Staaten, die den terroristischen Verbrechern Unterstützung und Unterschlupf gewähren", vorzugehen. Gleichzeitig forderte der Landesparteitag aber auch ein "umfassendes politisches, ökonomisches und kulturelles Konzept, das dem Terrorismus seinen Nährboden entzieht."[23]
"Es geht jetzt nicht um einen Kampf der Kulturen, sondern wir führen einen Kampf um die Kultur in einer immer mehr zusammenwachsenden Welt. Der Kampf gilt dem Terrorismus, nicht dem Islam. Auch wir werden im Rahmen unserer politischen Verantwortung im Bund, im Land sowie in den Kreisen, Städten und Gemeinden in Schleswig-Holstein dafür eintreten, dass unsere muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gegen Anfeindungen und Übergriffe geschützt werden. Sie sind unsere Nachbarn, Kollegen und im privaten Bereich unsere Freunde. Die Anschläge von New York und Washington waren schreckliche Verbrechen fanatischer Fundamentalisten; sie missbrauchen den Islam als Motiv für ihren Terrorismus. Wir werden den Dialog mit allen friedliebenden Muslimen in unserem Land verstärken und zum Verständnis für die unterschiedlichen Religionen beitragen."[24]
Afghanistan
Die rot-grüne Bundesregierung Anfang der 2000er beteiligte sich am Afghanistan-Einsatz. Die Bundeswehr sollte sich um die Sicherung der Hauptstadt Kabul kümmern. Eine Ausweitung des Einsatzes ohne UN-Mandat lehnte die SPD Schleswig-Holstein ab.[25] 2008 forderte sie knapp, den Afghanistan-Einsatz zu beenden.[26] Nach einem Positionspapier des SPD-Parteivorstandes schlug die Landespartei vor, sich dem Abzugsplan der USA anzuschließen und zwischen 2011 und 2015 alle Truppen abzuziehen. Afghanistan solle aber weiterhin darin unterstützt werden, staatliche Strukturen aufzubauen; analog zum europäischen KSZE-Prozess forderte sie die Vereinten Nationen auf, unter Beteiligung der USA, Russlands, Chinas, Indiens, Pakistans, Afghanistans und anderer regionaler Staaten Verhandlungen für eine Friedensordnung in Zentralasien zu initiieren und zu begleiten.[27]
Schröders Nein zum Irak-Krieg
Gegen hohen internationalen Druck sagten Bundeskanzler Gerhard Schröder und die rot-grüne Bundesregierung "Nein" zur deutschen Beteiligung am Irak-Krieg. Im Inland wurde die Haltung als populistisches Mittel im anstehenden Bundestagswahlkampf angeprangert[28]. Tatsächlich aber hatte Gerhard Schröder, damals noch Ministerpräsident in Niedersachsen, auch im ersten Irak-Krieg zu den Kritikern eines militärischen Vorgehens gehört. Der SPIEGEL schrieb damals:
"Doch die Rigorosität der Friedensfreunde wächst. In Niedersachsen gefährdet Gerhard Schröder, Chef der rotgrünen Landesregierung, sein bewährtes Zweckbündnis mit dem rechten SPD-Vorsitzenden Johann Bruns. Als Schröder in seiner Regierungserklärung vorletzte Woche zusammen mit seiner Absage an den Waffengang am Golf 'ohne jedes Wenn und Aber' die Heimkehr der deutschen Soldaten aus der Türkei forderte, hatte Bruns schon gemosert. Als er letzte Woche den Aufruf zu einer Demonstration in Hannover unterschrieb, in dem die Jüdischen Gemeinden 'Solidarität mit Israel' und den Alliierten fordern, verweigerte der Ministerpräsident Unterschrift und Teilnahme: Er mache bei 'keiner Demo' mit, deren 'zentrale Forderung nicht lautet: Kein Krieg!'."[29]
Die schleswig-holsteinische SPD unterstützte Gerhard Schröders Kurs. Der Landesparteitag 2003 beschloss:
"Es geht in dieser Auseinandersetzung darum, ob die Staaten der UNO den Mut, die Kraft und das Selbstbewusstsein haben, dem Ressourcenkrieg der USA zu trotzen. Es geht um die Frage, ob die UNO die Instanz ist, die letztendliche Entscheidungen über Maßnahmen gegen ein Land beschließt, oder ob sie vor dem Druck einer Supermacht zurückweicht. Ziel muss die unbedingte Stärkung der UNO sein. Ein von den USA ohne Legitimation durch die UNO durchgeführter Präventiv-Krieg widerspricht dem Völkerrecht. Es kann von deutscher Seite auch aufgrund der grundgesetzlichen Regelungen keine Unterstützung für einen völkerrechtswidrigen Angriff der USA auf den Irak geben. Das heißt auch, mittelbare Unterstützungsleistungen wie Überflugrechte u.ä. dürfen von Deutschland nicht ausgehen. [...]"[30]
Neuausrichtung seit 2014
Nach Äußerungen der Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU), des Bundespräsidenten Joachim Gauck und des Außenministers Frank-Walter Steinmeier (SPD) auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2013 startete die SPD Schleswig-Holstein einen breiten Diskussionsprozess unter dem Titel Friedenspolitik heute. Der Landesvorstand beschloss auf seiner Sitzung am 12. Mai 2014 eine Diskussionsgrundlage[31]. Gedruckte Versionen gingen an alle Gliederungen, auch online konnte diskutiert werden. Am 28. Juni - exakt 100 Jahre nach dem Attentat von Sarajevo, das den 1. Weltkrieg auslöste - fand unter dem Titel Friedenspolitik heute eine Konferenz in der Businesslounge der Sparkassenarena in Kiel statt. Eingeladen waren unter anderem Frank-Walter Steinmeier, Heidemarie Wieczorek-Zeul und Egon Bahr. Frank-Walter Steinmeier erklärte:
"Worum es mir geht: Mir geht's, wenn ich von Verantwortung rede, nicht um die Aufweichung des Begriffs der 'militärischen Zurückhaltung'. Ich habe immer nur gesagt: So sehr ich zum Begriff und zum Gebot der 'militärischen Zurückhaltung' stehe, so wenig Verständnis habe ich dafür, dass viele das als ein Gebot des Heraushaltens sehen. Zurückhaltung heißt nicht heraushalten - sondern wenn ich das Militärische nicht will, dann muss ich die anderen Instrumente der Außenpolitik möglichst so frühzeitig und möglichst so engagiert und vielleicht auch manchmal mit eigenem Risiko [einsetzen], damit das Militärische - die Entscheidung über das Militärische - am Ende nicht notwendig wird."[32]
In drei Foren wurde über verschiedene Aspekte von Friedenspolitik diskutiert. Die Anregungen flossen in ein Positionspapier ein, das auf dem Landesparteitag 2014 beschlossen wurde. Im Dezember 2015 wurden Teile des Papiers auch vom Bundesparteitag beschlossen.
"Zeitenwende" 2022
Nach dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine am 24. Februar 2022 sprach Bundeskanzler Olaf Scholz von einer "Zeitenwende" und kündigte eine bessere Ausstattung der Bundeswehr mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro an:
"Klar ist: Wir müssen deutlich mehr investieren in die Sicherheit unseres Landes, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen."[33]
Literatur
- Bahr, Egon: Frieden und Entspannung - Tradition im besten Sinn, in: Demokratische Geschichte 3(1988)
- Bahr, Egon: Der Weg zur Entspannungspolitik, in: Gesprächskreis Geschichte, Heft 72 (Friedrich-Ebert-Stiftung, 2006)
- Müller, Stefan: Die historische Entspannungspolitik und der russische Angriff auf die Ukraine, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn (2023) ISBN 9783986283292
Einzelnachweise
- ↑ Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 36
- ↑ Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 54
- ↑ Hugo Haase vor dem Reichstag am 4. August 1914, zit. in Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 55
- ↑ ?
- ↑ Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 56
- ↑ Osterroth, Franz / Schuster, Dieter: Chronik der deutschen Sozialdemokratie. Band 3: Nach dem zweiten Weltkrieg. (2. neu bearb. und erw. Aufl. 1978.) Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001
- ↑ Rechenschaftsbericht 1957-1958
- ↑ Bahr, Bahr: Wandel durch Annäherung, 15.7.1963
- ↑ Bahr, Egon: Frieden und Entspannung - Tradition im besten Sinn, Demokratische Geschichte 3(1988), S.
- ↑ Beschlussdatenbank: C3: Friedensdemonstration (1982)
- ↑ Beschlussdatenbank: A18: Friedenserziehung an Schulen (1983)
- ↑ nach Hartmann, Horst: Bundesrepublik oder Bananenrepublik? : Die Friedensbewegung bestimmt die Zukunft In: Rote Revue - Profil : Monatszeitschrift, Volume 60 (1981), S. 5
- ↑ Beschlussdatenbank: Resolution: Ächtung der Neutronenwaffe (1981)
- ↑ Pazifismus '81: Selig sind die Friedfertigen, DER SPIEGEL, 15.6.1981
- ↑ Walter, Gerd: Jetzt ist die Stunde der Abrüstung gekommen: Zur demokratischen Revolution in Osteuropa gehört eine starke Abrüstungskomponente, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, H. 237, 11.12.1989
- ↑ Beschlussdatenbank: B3: Rechtzeitig Maßnahmen zur Rüstungskonversion treffen (1990)
- ↑ Perger, Werner A.: Führung auf die sanfte Tour, DIE ZEIT, 22.3.1991
- ↑ SPD Schleswig-Holstein - Rechenschaftsbericht 1989-1991
- ↑ SPD Schleswig-Holstein - Rechenschaftsbericht 1989-1991
- ↑ Rechenschaftsbericht 1999-2001
- ↑ Beschlussdatenbank: Abschaffung Wehrpflicht
- ↑ Erklärung von Bundespräsident Johannes Rau beim Empfang zu Ehren der Präsidentin der Republik Finnland im Schwedischen Theater Helsinki, bundespraesident.de, abgerufen 13.8.2014
- ↑ Beschlussdatenbank: Resolution: Kein Kampf der Kulturen, sondern Kampf um die Kultur im 21. Jahrhundert (2001)
- ↑ Beschlussdatenbank: Resolution: Kein Kampf der Kulturen, sondern Kampf um die Kultur im 21. Jahrhundert (2001)
- ↑ Beschlussdatenbank: Au1: Keine Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan ohne UN Mandat (2003)
- ↑ Beschlussdatenbank: A1: Bundeswehreinsatz in Afghanistan (2008)
- ↑ Beschlussdatenbank: AP1 Neu: Afghanistan-Strategie (2010)
- ↑ Irak-Krieg: Schröder im Kreuzfeuer, SPIEGEL ONLINE, 22.1.2003
- ↑ In den Wolken, DER SPIEGEL, 4.2.1991
- ↑ Beschlussdatenbank: Resolution 1: Nein zum Krieg im Irak (2003)
- ↑ Beschlussdatenbank: Diskussionsgrundlage: Friedenspolitik heute (2014)
- ↑ Youtube: Rede Frank-Walter Steinmeier, ab Minute 37.21
- ↑ Haferkamp, Lars: Regierungserklärung: Wie Olaf Scholz eine „Zeitenwende“ einleitet., vorwaerts.de, 27.2.2022