Reichstagswahl 1877

Aus SPD Geschichtswerkstatt

[[Datei:{{#setmainimage:Karte der Reichstagswahlen 1877.svg}}|alternativtext=Karte der Reichstagswahlen 1877|mini|Karte der Reichstagswahlen 1877]]

Die Reichstagswahl 1877 fand am 10. Januar 1877 statt. Sie war die dritte Reichstagswahl im Deutschen Reich.

"Zum Wahlkampf 1877 erwies sich das Bürgertum besser als früher gegen die Sozialisten vorbereitet. Es hatte von der Arbeiterpartei einiges gelernt. Liberale Diskussionsredner wagten sich jetzt offen in sozialdemokratische Versammlungen. Oldesloe erlebte in vier Versammlungen Rededuelle zwischen dem Sozialisten Ignaz Auer und dem Liberalen Liesenberg. In Altona stritten Hasenclever und Liesenberg öffentlich über den Militäretat."[1]

In den 397 Wahlkreisen wurde nach absolutem Mehrheitswahlrecht jeweils ein Abgeordneter gewählt. Wenn kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichte, wurde eine Stichwahl zwischen den beiden bestplatzierten Kandidaten durchgeführt.

Die Sozialisten (die vereinigte SAP) erreichten 9,1% der Stimmen und 12 Mandate - keines davon in Schleswig-Holstein. Hier nahm die Zahl der Stimmen von 44.593 auf 43.720 leicht ab. Im Wahlkreis 9 hatte die Unterdrückung durch die Gutsherren gewirkt. Die Stimmenzahl fiel von 8.098 auf 4.827. Otto Reimer musste den Wahlkreis an den Grafen von Holstein abgeben.[1] Zwar konnte Wilhelm Hasenclever den Wahlkreis 8 (Altona) für sich gewinnen, nahm das Mandat jedoch nicht an.

"Da Hasenclever auch noch in einem Berliner Wahlkreis gewählt wurde und er dieses Mandat annahm, ging der sichere Altonaer Wahlkreis der Sozialdemokratie in der Nachwahl doch noch verloren. Aufgrund von massiver Wahlbehinderung durch die Behörden - es wurden z.B. Wirte unter Druck gesetzt, auf dem Lande ihre Lokale nicht zur Verfügung zu stellen - und der Tätigkeit der Opposition gegen den sozialdemokratischen Kandidaten Hartmann, gewann den 8. Wahlkreis der liberale Professor Karsten."[2]

Der Vorwärts beklagte in seiner Ausgabe von 11. Februar 1877 die Manipulation des Bürgertums. Er mahnte: "Niemand darf sich am Wahltage abhalten lassen, an die Wahlurne zu treten, um seine Stimme für Georg Wilhelm Hartmann abzugeben."[3] Alle Anstrengungen waren vergebens. Der bürgerliche Kandidat wurde durchgesetzt.

Schon vor der Wahl beklagte der Kandidat Stephan Heinzel im "Vorwärts", wie der Sozialdemokratie das Leben schwer gemacht wurde:

"Es sollte sich die Agitation auf den Rendburger Landkreis erstrecken, weil dort bei der letzten Wahl die wenigsten Stimmen für den Arbeitercandidaten abgegeben worden sind. Die Agitation wird uns aber nicht so leicht werden. Lokale zu bekommen ist auch hier sehr schwierig. Was die Bosheit der Großbauern nicht vermag, das thut die Allmacht der Polizei, von der ja die 'gesetzliche Freiheit' so sehr abhängig ist. Als dritte Großmacht müssen wir die Itzehoer Tante[Anm.: 1] rechnen, die in jeder Wirthschaft, ja in jedem Hause zu finden ist. Diese Kloake liberaler Unabhängigkeit läßt neue Verdächtigungen und Verleumdungen gegen die Arbeiterbewegung beinahe in keiner Nummer fehlen, und so kann es uns nicht Wunder nehmen, wenn man uns für Diebe, Räuber u.s.w. hält."[4]

Das Altonaer Arbeiter-Wahlkomitee reichte am 14. März 1877 offiziell Protest dagegen ein. Die Wahlprüfungskommission setzte sich mit den umfangreichen Beschwerden auseinander und stellte fest, dass sie alle haltlos oder nicht zu beweisen seien. Zwei Beispiele:

"1. Der städtische Exekutor Ramm in Altona habe im amtlichen Auftrage in der Zeit von Ende Januar bis zum Wahltage, den 15. Februar, vielen weniger bemittelten Wählern zu Altona erklärt: "er habe ihnen im Auftrage des Magistrats mitzutheilen, daß sie angehalten seien, für Karsten zu stimmen, widrigenfalls sie in den städtischen Steuern erhöht werden würden". In gleicher Weise hätten Mitglieder der städtischen Einschätzungs-Kommission, namentlich der Materialist Eiller die Wähler dadurch einzuschüchtern versucht, daß sie denselben eingeredet hätten: wer Hartmann wähle, würde höher eingeschätzt werden.

Durch die stattgehabte Beweisaufnahme sind diese Behauptungen nicht erwiesen. Der Exekutor Ramm hat entschieden bestritten, derartige Aeußerungen gethan zu haben und der eidlich vernommene Cigarenarbeiter Franz Werner in Altona hat dieselben ebensowenig aus eigener Wissenschaft zu bekunden vermocht. [...]

9. Es wird endlich behauptet, daß in Glinde (Wahlbezirk 46), woselbst für Karsten 119, für Hartmann 88 Stimmen abgegeben sind, ein einflußreicher Mann, der Müller Timm aus Ost-Steinbeck, vor der geöffneten Thür des Wahllokals gestanden, jedem Wähler einen Stimmzettel für Karsten' gegeben und dabei in lauter, dem Wahlvorstande verständlicher Weise gerufen habe: "Stecke den Zettel in die linke Westentasche und gieb ihn ab."

Es folgt hieraus, selbst wenn die Thatsache auf Wahrheit beruhen sollte, nach der Ansicht der Kommission noch nicht, daß die betreffenden Wähler in der That gegen ihren Willen und Ueberzeugung gestimmt, und den von Timm erhaltenen Wahlzettel auch wirklich abgegeben haben, weshalb diese Behauptung gleichfalls für unerheblich erachtet ist."[5]

Eine Folge der Unterdrückung war, dass die Arbeiterschaft sich noch stärker machte und mit der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung ein eigenes Veröffentlichungsorgan gründete:

"Die Arbeiterpartei ist wieder erste auf dem Plan nach der so bewegten Zeit der Wahl. Die allgemeine Niederlage, den so müssen wir es nennen, obgleich die Stimmenzahl für unsere Candidaten fast dieselbe Höhe von 1874 erreichte, hat uns nicht entmuthigt und mürbe gemacht, wie die Gener meinen, sondern eine, wenn auch bittere, Lehre gegeben. Die Parteigenossen sind an vielen Orten mit allzu großer Zuversicht auf ihre Stärke in den Wahlkampf gegangen und haben deshalb meistens die schon damals vereinigten Gegner unterschätzt. Außerdem trugen noch andere Umstände zur Niederlage bei. Während der ganzen Wahlperiode stürzten die Liberalen, Fortschrittler u.s.w. mit einer Wuth sondersgleichen über uns her; das ganze Heer ihrer Zeitungsschreiber verleumdete und verdächtigte uns unablässig, nebenher erschienen Flugschriften über Flugschriften, und uns blieb kein weiteres Vertheidigungsmittel als die Versammlungen und einige unserer Parteiblätter, die leider hier nicht so viel belesen werden, um irgendwelchen bedeutende Einfluß auf die Bevölkerung ausüben zu können. Genug, alles Das hat uns gewitzt. Die Parole für die nächsten drei Jahre muß sein: planmäßige Agitation und einheitliches Zusammenwirken aller Kräfte. Die Conferenz, welche am 24. Juni in Neumünster tagte, hat dies anerkannt. - Ferner wird ein neuer und zwar bedeutender Agitator für uns in's Feld geführt: Die vom 1. Oktober d. J. ab in Kiel dreimal wöchentlich erscheinende 'Schleswig-Holsteinische Volkszeitung'. [...]"[6]

Links

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 17
  2. Krämer, Gerd: Altona 1848-1890. Das Bollwerk des Nordens. In: Demokratische Geschichte, Band 3(1988), S. 69
  3. Zur Nachwahl im 8. Schleswig-Holsteinischen Wahlkreise., Vorwärts, 11.2.1877
  4. Vorwärts vom 26.11.1876, Nummer: 25, Jahrgang: 1
  5. Deutscher Reichstag: Bericht der Wahlprüfungskommission über die Wahl im 8. schleswig-holsteinischen Wahlkreise. Aktenstück Nr. 243, S. 1544 f.
  6. Vorwärts vom 11.07.1877, Nummer: 80, Jahrgang: 2

Anmerkungen

  1. "Die Tante aus Itzehoe" oder "Itzehoer Tante" scheint ein gängiger Schmähbegriff der Arbeiterschaft für die "Itzehoer Nachrichten" gewesen zu sein. Siehe: Vorwärts vom 1.12.1876, Nummer: 27, Jahrgang: 1