Reichstagswahl 1874
Die Reichstagswahl 1874 fand am 10. Januar 1874 statt. Sie war die Wahl zum 2. Deutschen Reichstag. Sowohl der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) als auch die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) konnten ihre Ergebnisse verbessern. In Schleswig-Holstein erhielten sie mehr als ein Drittel der abgegebenen Stimmen.[1]
Ausgangslage
In den Wahlkreisen wurde nach absolutem Mehrheitswahlrecht ein Abgeordneter gewählt. Wenn kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichte, wurde eine Stichwahl zwischen den beiden bestplatzierten Kandidaten durchgeführt.
Die Lassalleaner traten mit einem Programm aus bekannten Punkten an:
"Wahlrecht für Soldaten, die Herabsetzung des Wahlalters, die Verlegung des Wahltages auf den Sonntag, die Beseitigung der geistlichen Schulaufsicht, eine Reform des Schulwesens, die Verstaatlichung der öffentlichen Verkehrseinrichtungen, die Förderung von Produktivgenossenschaften und die Verdammung des Eroberungskrieges."[2]
Der Neue Social-Demokrat analysierte:
"Daß Freude über diese Ergebniß im Arbeiterlager und ein fürchterlicher Schrei auf Seiten der Gegner stattfand, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Doch sehen wir erst die Ursache dieses Aufschwunges unserer Partei, dann ist am Schlusse ein noch besseren Urtheil über die Bourgeoisie zu fällen. Vor fünf bis sechs Jahren war die Lehre Lassalle's hier unter der Gesammtbevölkerung wenig bekannt; wenig industrielle Orte (Altona, Ottensen, Pinneberg, Kiel, Neumünster ⁊c.) hatten kleine Zahlen von Mitgliedschaften des Allg. deutschen Arb.-Vereins aufzuweisen, und die Hoffnung, in der Provinz festen Boden zu gewinnen, wurde immer durch die Meinung beseitigt, erstens, daß Schleswig-Holstein eine vorwiegend Ackerbau betreibende Bevölkerung habe; zweitens, daß bei dem vorhandenen Wohlstand (nicht Reichthum) der Provinz der Mittelstand sich noch lange halten könne, zumal die Konkurrenz der deutschen Großindustrie, welche nach der Annexion hier eintrat, anfänglich gar nichts ausrichten konnte; drittens daß der Schleswig-Holsteinische Partikularismus, und viertens daß der Uebelstand der plattdeutschen Sprache, als Hinderungsmittel der Bildung, uns die Agitation erschwerten. - Doch über alle Hemmnisse sollten wir hinweggehoben werden; im Norden sollte sich ein fester Kern bilden zur Erlösung des Proletariats. Die Partei hatte sich in Altona von 30 Mitgliedern bis auf einige Hundert vermehrt (wenn wir nicht irren, waren es 280), als, von verschiedenen Seiten unterstützt - namentlich von Hamburg aus - ein 'Schleswig-Holsteinischer Arbeitertag' nach Kiel einberufen wurde. Im Frühjahr 1870 kam derselbe zu Zustande und nahm unter der Leitung Georg Winter's einen ruhigen, sagen wir harmlosen Charakter an; denn - was wir erhofften - die Heranziehung der Bildungsvereine und der verschiedenen, uns noch fernstehenden Arbeiterkorporationen, welche, unter bedeutenden Kosten, durch Aufrufe, Flugblätter ⁊c. ⁊c. aufgefordert waren, Delegirte zu senden, hatte sich nicht erfüllt. Wir können uns noch immer nicht eines wehmüthigen Lächelns erwehren, wenn uns die dortige Mandatsprüfung in's Gedächtniß kommt. Ein stenographisch aufgenommenes Protokoll wurde, weil zwecklos, bis heute nicht gedruckt und alle schönen Reden über 'erworbene Rechte' blieben der Welt verborgen. Da kam die Polizei; man hielt uns für gefährlich. In Neumünster zuerst, dann in allen Orten, wurde der Allgemeine deutsche Arb.-Verein verboten, Maßregelungen und Strafen folgten. Somit können wir 'Glück auf' rufen. Die Presse, die uns bis dato todtgeschwiegen, brachte nunmehr wenigstens gehässige Artikel. Die Verfolgung spornte den Eifer unserer Parteigenossen zu nie geahnten Opfern an. Was bei der Reichstagswahl 1871 ohne Mittel geleistet wurde, ist erstaunlich. Jeder wollte zeigen, daß er nicht der Macht gegenüber den Nacken beugte. Die Zahl der Mitglieder des Allg. deutschen Arb.-Vereins mehrte sich trotz der polizeilichen Beschränkung; die Arbeiter kannten die persönlichen Opfer, welche Diejenigen bringen mußten, welche von ihren Brüdern hinaus gesandt wurden, unsere Lehre zu verbreiten, und dadurch, daß die Zeitungen dumm genug waren, dieses nicht ebenfalls zu begreifen, sondern die Agitatoren beschmutzten, brachte sich die Presse selbst um allen Kredit bei dem Arbeiterstande und ebnete die Wege für unser Organ. Wird sich aber dies alles so halten? Ja! - Bei der nächsten Wahl müssen wir sechs Abgeordnete statt zwei durchbringen; auch sind die Bedenken von früher gefallen: erstens, gerade der ländliche Proletarier ist zur Erkenntnis seiner Lage gekommen; zweitens, die Großindustrie bürgert sich immer mehr ein und schafft uns neue Mitkämpfer; drittens, der Partikularismus ist jetzt gleich Null, und viertens, wir haben Redner, die in Schleswig-Holstein geboren und mit der plattdeutschen Sprache genügend vertraut sind."[3]
Franz Osterroth sah noch einen anderen Faktor am Werk:
"Der Eutiner USPD-Politiker Wilhelm Dittmann erklärte die Wahl von Otto Reimer später: 'Die Großgrundbesitzer waren erbost darüber, daß an Stelle der alten dänischen Gesetze nunmehr die neuen, für sie ungünstigen Gesetze des bismarckschen Reiches getreten waren. Um der Regierung zu zeigen, wohin es führe, wenn man sie nicht genügend estimiere, hatten sie der sozialdemokratischen Agitation freien Lauf gelassen, ja sie gefördert. Hinterher allerdings, als die Gutsarbeiter geglaubt hatten, nun auch Forderungen an die Herren Junker stellen zu können, hatten sie fürchterliche Musterungen unter den Landarbeitern gehalten.' Mehr als 200 'Geächtete' verloren Arbeit und Gutswohnung. Unter diesen Umständen ging in Neustadt bis August 1874 die Abonnentenzahl des Neuen Socialdemokraten von 37 auf 6 zurück.[1]
Der Wahlerfolg sorgte dafür, dass sich weitere ADAV-Gruppen in Schleswig-Holstein gründeten.
Kandidaten
Wahlkreis-Nr. | Wahlkreis-Name | Kandidat[3] |
1 | Hadersleben, Sonderburg | Georg Winter |
2 | Apenrade, Flensburg | Georg Winter |
3 | Schleswig, Eckernförde | Genosse Oldenburg |
4 | Tondern, Husum, Eiderstedt | ? |
5 | Norderdithmarschen, Süderdithmarschen, Steinburg | Georg Winter |
6 | Pinneberg, Segeberg | Georg Winter |
7 | Kiel, Rendsburg | Wilhelm Hartmann |
8 | Altona, Stormarn | Wilhelm Hasenclever |
9 | Oldenburg in Holstein, Plön | Otto Reimer |
10 | Herzogtum Lauenburg | ? |
Ergebnis
"Das von der sozialdemokratischen Springflut meist bedrohte Land" - so nannte man Schleswig-Holstein nach der Wahl.[1]
"Die gesammte Presse Deutschland ist erstaunt über den Ausfall der letzten Reichstagswahl in Schleswig-Holstein.[3]
Statt zwei erhielten die Sozialdemokraten neun Mandate - von 397. In Schleswig-Holstein gewann erstmals Wilhelm Hasenclever den Wahlkreis 8 (Altona, Stormarn) und Otto Reimer den Wahlkreis 9 (Oldenburg in Holstein, Plön) für den ADAV.
Im Wahlkreis 7 (Kiel, Rendsburg) kam der sozialdemokratische Kandidat Wilhelm Hartmann in die Stichwahl.[4] Auch im Wahlkreis 10 (Herzogtum Lauenburg) erreichte die Sozialdemokratie 23,7 % - beachtlich in einem Wahlkreis mit nur 8 % an Industriearbeitern.[5]
Stimmanteil | Veränderung zu 1871 | Mandate | |
---|---|---|---|
ADAV | 3,5 % | +2,1 % | 6 |
SDAP | 3,3 % | +2,2 % | 3 |
Links
- Wikipedia: Reichstagswahl 1874
Einzelnachweise
- ↑ 1,0 1,1 1,2 Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 16
- ↑ Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 15
- ↑ 3,0 3,1 3,2 Neuer Social-Demokrat - Tagesausgabe, 11.02.1874
- ↑ Nachruf auf Stephan Heinzel, Hamburger Echo, 24.11.1899, S. 6
- ↑ Zimmermann, Hansjörg: Die Sozialdemokratie im Kreis Herzogtum Lauenburg von den Anfängen bis 1933 in: Paetau, Rainer / Rüdel, Holger (Hrsg.): Arbeiter und Arbeiterbewegung in Schleswig-Holstein im 19. und 20. Jahrhundert (Neumünster 1987) ISBN 3-529-02913-0