Willi Neurath

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Willi Neurath
Willi Neurath
Willi Neurath
Geboren: 22. August 1911
Gestorben: 13. April 1961

Willi Neurath * 22. August 1911 in Erfurt, † 13. April 1961 in Köln; Buchbinder. Mitglied der SPD nach 1945.[1]

Weimarer Republik

Nach Abschluss der Volksschule in Köln 1925 war Willi Neurath als Steindruckhilfsarbeiter bei der "Kölnischen Zeitung" beschäftigt. Von Anfang 1927 bis Ende 1930 machte er eine Lehre zum Buchbinder.[2]

Nach seiner Lehre fand er nicht sofort Arbeit und betätigte sich verstärkt politisch, bis er wieder Arbeit als Buchbinder fand. Zwei seiner Brüder waren Kommunisten, einer Sozialdemokrat. Er engagierte sich in der KPD. Aufgrund innerparteilicher Differenzen wurde er jedoch ausgeschlossen und trat später einer Abspaltung der Partei bei. Sein Sohn, Bruno Neurath-Wilson erzählte:

"Als Kommunist ist er in Köln verhaftet worden - als Sozialdemokrat wurde er befreit. Er hat sich aber offensichtlich nie in eine der parteipolitischen Schablonen einordnen lassen. Aus der KPD wurde er ausgeschlossen, weil er als 'Trotzkist' galt. Von meiner Mutter weiß ich, daß er empört über die 'Sozialfaschismus-Theorie' der Parteiführung war.“[2]

Nazi-Diktatur

Sein politisches Engagement brachte Willi Neurath nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 in Konflikt mit dem Nazi-Regime. Im November 1935 wurde er im Alter von 24 Jahren von der Gestapo in Köln verhaftet und wegen "Hochverrats" verurteilt. Er verfügte über eine Bibliothek mit ca. 1.000 Bänden. Die wurde wahrscheinlich während seiner ersten Inhaftierung 1935 von der Gestapo beschlagnahmt.[3]

Er verbrachte die folgenden Jahre in verschiedenen Strafanstalten, darunter in Siegburg und Vechta, sowie im Konzentrationslager Esterwegen. Am 24. Dezember 1940 wurde er schließlich entlassen. Während seiner Zeit im Zuchthaus Vechta freundete er sich mit einem Kölner Mitgefangenen an, dessen Ehefrau er nach seiner Entlassung eine Nachricht überbrachte. Dabei lernte er die Stieftochter seines Freundes, Eva Pakullis (* 1921 in Berlin), kennen. Sie verliebten sich und heirateten kurz darauf.

Am 23. April 1943 wurde Willi Neurath erneut verhaftet und in die Gestapo-Zentrale im El-De-Haus gebracht. Dort wurde er unter Folter verhört, gab aber die Namen seiner Kameraden nicht preis. Es begann eine jahrelange Odyssee durch verschiedene Haftstätten. Nach einer Zeit in Untersuchungshaft in Köln wurde er in die Konzentrationslager Buchenwald und später Sachsenhausen überführt.

In Buchenwald gelang es seiner Ehefrau Eva, ihn ohne Voranmeldung zu besuchen, indem sie sich mit einem litauischen Wachposten in ihrer Muttersprache verständigte und so Zugang zu ihrem Mann erhielt. Sie konnte ihn für kurze Zeit sehen, was eine große moralische Unterstützung für beide darstellte. Eva verlor danach den Kontakt zu ihm und wusste nicht mehr, wo er gefangen gehalten wurde.

Im Oktober 1944 wurde Willi Neurath in das KZ Neuengamme verlegt. Im Mai 1945, kurz vor Kriegsende, wurde er zusammen mit anderen Häftlingen auf das Schiff CAP ARCONA gebracht, das in der Lübecker Bucht lag. Die britische Luftwaffe griff das Schiff an, wobei viele Häftlinge starben. Neurath, der nicht schwimmen konnte, blieb auf dem brennenden, gekenterten Schiff. Erst am Abend des Angriffs wurde er von den Briten gerettet und in Neustadt an Land gebracht.

Zu diesem Zeitpunkt befand sich auch seine Frau Eva in Neustadt, wohin sie als Marinehelferin verlegt worden war, ohne zu wissen, dass ihr Mann auf der CAP ARCONA gefangen war. Am Tag nach dem Angriff trafen die beiden zufällig am Strand von Neustadt aufeinander und erkannten sich nach Jahren der Trennung wieder.

Nach der NS-Herrschaft

Nach Ende der NS-Zeit blieben die Neuraths zunächst in Neustadt, wo ihre beiden Kinder geboren wurden. Willi Neurath fand Arbeit bei der Stadtverwaltung. Schon vor und während der KZ-Haft hatte er sich von der KPD distanziert. Nun trat er der SPD bei.

Von 1947 bis 1949 war er Vorsitzender des Kreisvereins Oldenburg. 1948/49 war er zusätzlich Ortsvereinsvorsitzender in Neustadt.[4] Gemeinsam mit Kameraden wie Paul Stassek setzte er sich für die Bergung der Leichen der CAP ARCONA-Opfer ein und beteiligte sich an der Einrichtung eines Gedenkfriedhofes.

Ab 1949 leitete er im Innenministerium in Kiel das Referat für "Politische Wiedergutmachung" und kümmerte sich um die Belange von Nazi-Opfern. Diese Arbeit und die schweren körperlichen und psychischen Folgen der Haftjahre belasteten ihn jedoch stark. Möglicherweise bestand die schwerste Belastung darin, dass er in seiner Tätigkeit Dinge zu vertreten hatte, die er aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen ablehnen musste. In einer Untersuchung über die Praxis der Wiedergutmachung in Schleswig-Holstein mit dem bezeichnenden Titel Sieg der Sparsamkeit schreibt der Autor, der über die Person Willi Neurath nichts zu wissen scheint, über dessen erste Besprechung mit den Geschäftsführern der Sonderhilfsausschüsse am 1. September 1949:

"Gastgeber war nun der zuständige Referent Neurath vom Innenministerium. Er wies grundsätzlich darauf hin, 'dass Anträge auf Haftentschädigung nicht großzügig behandelt werden sollen'. Außerdem erläuterte er, 'dass eine Anerkennung nur ausgesprochen werden soll, wenn einwandfrei politische Motive für die Verfolgung vorgelegen haben. Das politische Motiv muss ausschlaggebend sein. Es genügt nicht, wenn es mitgewirkt hat.' [...] Durch den Wechsel der Zuständigkeit vom Wohlfahrts- in das Innenressort in den Jahren 1948/49 hatte sich ein deutlicher Stimmungswandel vollzogen. Während Nielsen vom Arbeits- und Wohlfahrtsressort sich eher als Anwalt der Ansprüche der Verfolgten betrachtete, sah es Neurath vom Innenministerium in erster Linie als seine Aufgabe an, möglichst viele Ansprüche gegen das Land abzuwehren."[5]

Man darf wohl davon ausgehen, dass Willi Neurath hier die Vorgaben seines Ministeriums umsetzte, in dem verstärkt wieder Beamte tätig waren, die dort schon unter den Nazis gearbeitet hatten. Wie weit die von ihm ebenfalls gegebenen Anweisungen zum Umgang mit speziellen Opfergruppen wie "Zigeunern", "Kriminellen", "Asozialen" oder Menschen mit Behinderung seinen eigenen Überzeugungen entsprachen - wovon der Autor auszugehen scheint[6] - lässt sich nicht entscheiden. Zum Abschluss heißt es:

"Eine bezeichnende Meinung vertrat Neurath [...] auch hinsichtlich der Entschädigung von Personen, die wegen Umgangs mit Kriegsgefangenen oder Ausländern inhaftiert waren. [...] Was bei einem Mann politisch motivierter Widerstand sein konnte, war für Neurath bei einer Frau lediglich die Schwäche des Geschlechts und somit nicht entschädigungsfähig. Für Neurath waren Frauen anscheinend zu politischem Widerstand nicht fähig. Diese vollkommen im Geist der traditionellen Geschlechterrolle verhafteten Ausführungen blieben bei der Dienstbesprechung ohne Widerspruch. Eine Geschäftsführerin gab es bei keinem Sonderhilfsausschuss."[7]

Da das Wiedergutmachungsreferat ab November 1950 von Hans Sievers geleitet wurde[8], kann Willi Neurath diese Funktion nur wenig länger als ein Jahr innegehabt haben. Möglicherweise hat er sie im Sinne des Innenministeriums ausgeführt, um - gerade nach dem Wechsel der Landesregierung - seinen Lebensunterhalt nicht zu gefährden, dann aber festgestellt, dass es ihn überforderte, gegenüber Leidensgenossen Positionen zu vertreten, die er aufgrund seiner Erfahrungen zumindest in Teilen ablehnen musste. Für diese Spekulation haben wir bisher allerdings keine Belege.

Wir wissen nur, dass er aus der aktiven politischen Arbeit ausschied und mit seiner Familie nach Köln zurückkehrte.

Willi Neurath starb am 13. April 1961 mit nur 49 Jahren in Köln. Sein Sohn Bruno Neurath-Wilson erinnert sich an seinen Vater als einen zurückhaltenden Menschen, der wenig über die Haftjahre sprach. Stattdessen prägten symbolische Darstellungen in Form von Radierungen, die Szenen von Leid und Solidarität im KZ darstellten, die Kindheit der Familie und gaben stumme Zeugnisse über die Erfahrungen des Vaters.

Franz Osterroth erwähnt Willi Neurath in seiner Geschichte der SPD in Schleswig-Holstein als Überlebenden der CAP-ARCONA-Katastrophe[9] - entsprechend bekannt muss er in der Nachkriegszeit gewesen sein.

Literatur

  • KZ Gedenkstätte Neuengamme: Willi Neurath, Ergänzter Neudruck, 2020
  • Scharffenberg, Heiko: Sieg der Sparsamkeit (Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2004), ISBN 3-89534-467-2

Einzelnachweise

  1. Dieser Artikel basiert auf den Recherchen des Arolsen Archives.
  2. 2,0 2,1 KZ Gedenkstätte Neuengamme: Willi Neurath, Ergänzter Neudruck, 2020
  3. Württembergische Landesbibliothek, Willi Neurath
  4. Martens, Holger: Die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Schleswig-Holstein 1945 - 1959 (Malente 1998), ISBN 3-933862-24-8, Band 2, Seite 557
  5. Scharffenberg, Heiko: Sieg der Sparsamkeit, Seite 61
  6. Scharffenberg, Heiko: Sieg der Sparsamkeit, Seite 62
  7. Scharffenberg, Heiko: Sieg der Sparsamkeit, Seite 64
  8. Scharffenberg, Heiko: Sieg der Sparsamkeit, Seite 78
  9. Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 117