Käthe Leu
Käthe Leu |
Catharina Caroline Elise 'Käthe' Leu (geb. Weihmann), * 17. August 1881 in Gneversdorf/Travemünde, † 7. Mai 1933 in Danzig; Gewerkschafterin, Agitatorin, Journalistin. Mitglied der SPD vermutlich seit 1908; von 1918 bis 1922 der USPD, dann wieder der SPD.
Leben & Beruf
Catharina Caroline Elise Weihmann[1]), genannt Käthe, kam am 17. August 1881 in Gneversdorf/Travemünde als Tochter des Arbeiters Friedrich Detlef Hermann Weihmann und Sophia Christina Magdalena Weihmann, geborene Maass, zur Welt.[2] Über ihre Kindheit und Jugend ist nichts bekannt.
Am 6. September 1899 brachte sie in Travemünde einen Sohn zur Welt. Aus der Geburtsurkunde dieses Sohnes geht hervor, dass sie zu diesem Zeitpunkt "unverehelicht" war und "Dienstmädchen".[3]
Uneheliche Mutterschaft gehörte damals für Dienstmädchen gewissermaßen zum Berufsrisiko, weil nicht selten die "Herrschaften" die jungen Frauen vergewaltigten.
"Wurde eine Frau schwanger, gab es zwar die Möglichkeit der Abtreibung. Es wird für die Dienstmädchen, die aus ihren sozialen Zusammenhängen gerissen waren, jedoch schwierig gewesen sein, eine Frau zu finden, die ihnen dabei half. Sobald die Schwangerschaft entdeckt wurde, verlor sie in der Regel ihre Stellung und damit auch Unterkunft und Verpflegung."[4]
Ob das auch hier so ein Fall war, ist nicht zu ermitteln. Es könnte aber Auslöser für ihren späteren Einsatz für die Rechte der Frauen und für uneheliche Kinder gewesen sein.
Am 11. April 1906 heiratete sie in Lübeck den Schlosser Georg Leu. Dem unehelichen Sohn von Käthe "erteilte" dieser laut Heiratsurkunde seinen Namen[5].
Im Oktober 1907 zog das Paar mit jetzt zwei Kindern nach Schwartau.[6] Georg Leu, jetzt Lagerhalter, war zunächst unter der Adresse Kaltenhof 43 gemeldet[7], 1910[8] und 1911[9] dann in der Eutiner Straße 20.
Die Gleichheit vom November 1912 nennt Käthe Leu als "Leu-Kolmar".[10] Sie muss also zu dieser Zeit schon in Kolmar in Posen (heute: Chodzież/Polen) gelebt haben.
Im Sommer 1913 wurde Georg Leu zum Parteisekretär in Danzig-Stadt und -Land gewählt.[11] Die Familie zog nach Danzig. Im Adressbuch ist "Leu, Georg, Parteisekretär, Am Jakobswall 23" eingetragen.[12]
Seit 1930 war Käthe Leu gelähmt[13], offenbar aufgrund eines Schlaganfalls[14].
Umstände des Todes
Anders als im Deutschen Reich konnten die Nationalsozialisten 1933 in der Freien Stadt Danzig, die unter dem Schutz des Völkerbundes stand, nicht direkt auf die Machtmittel des Staates zurückgreifen, um ihre Politik der "Gleichschaltung" durchzusetzen. Aufgrund eines fadenscheinigen Rechtstitels und unter Verstoß gegen die völkerrechtliche Stellung der Stadt und die in ihrer Verfassung garantierten Freiheitsrechte gelang es ihnen am 12. Mai 1933 dennoch, das Gewerkschaftshaus unter Polizeischutz zu besetzen. Das Vermögen der Gewerkschaft wurde beschlagnahmt und der reichsdeutschen Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) übergeben, die Angestellten ihrer Ämter enthoben[15].
Ein ähnlicher Vorgang führte nur wenige Tage davor zum Tod von Käthe Leu.
In der Literatur gibt es den Hinweis, sie sei 1933 an einem Schock gestorben, nachdem ihr Mann Georg Leu als Sekretär des gewerkschaftsnahen Zentralverbandes der Angestellten (ZdA) von den Nationalsozialisten überfallen worden sei.[13]
Die deutschnationale Danziger Allgemeinen Zeitung vom 9. Mai 1933 berichtet, am 6. Mai 1933 habe der nationalsozialistische Stadtverordnete Fritz Klatt die Danziger Geschäftsstelle des Zentralverbandes der Angestellten in Begleitung u. a. zweier Beamter der Schutzpolizei aufgesucht und unter Berufung auf die reichsdeutsche Leitung des Zentralverbandes den
"bisherigen Geschäftsführer Leu seines Amtes enthoben und von den Kontorräumen Besitz ergriffen. [...] Gegenüber der Darstellung in der Volksstimme erfahren wir, daß die Übernahme des Geschäftsbetriebes, die sich übrigens vollkommen ruhig vollzog, zu keinen Beanstandungen Anlass bietet [...]."[14]
Die Danziger Volksstimme, deren Bericht uns nicht vorlag, hatte dies also offenbar deutlich anders dargestellt. Ohne ausdrücklichen Kommentar wird weiter berichtet:
"Am Sonntag abend ist die Ehefrau des bisherigen Geschäftsführers, die bekannte sozialdemokratische Führerin Käthe Leu, nach längerer Krankheit - sie hatte vor Jahren einen Schlaganfall erlitten - im Alter von 51 Jahren einem Herzschlag erlegen. Die Danziger Volksstimme bringt den plötzlichen Tod Käthe Leus in Zusammenhang mit dem oben erwähnten Vorfall."[14]
Ein Abgleich mit der zitierten Berichterstattung der Danziger Volksstimme ist derzeit nicht möglich, da für die fragliche Zeit keine Digitalisate vorliegen. Drei Jahre später aber erinnerte die Zeitung noch einmal an Käthe Leu: Als "ein Opfer der Erschütterungen der damaligen Vorgänge" sei sie am 11. Mai 1933 "unter starker Anteilnahme der Arbeiterschaft zu Grabe getragen" worden.[16]
Partei & Politik
Schwartau
Schon bald nach ihrem Umzug nach Schwartau engagierten sich die Eheleute Leu in der Schwartau-Rensefelder SPD. Gemäß den bisher ausgewerteten Quellen war es das erste namentliche Auftreten der beiden in der politischen Öffentlichkeit:
Am 2. November 1907 beteiligte sich "Genosse Leu" im Gasthaus "Transvaal" an der Diskussion über einen bildungspolitischen Vortrag von Johannes Stelling.[17]
Käthe Leu schloss sich vermutlich im Mai 1908 der SPD an, gleich nach Inkrafttreten des Reichsvereinsgesetzes vom 15. Mai 1908, das Frauen erstmals erlaubte, einer Partei beizutreten. 1918 wechselte sie zur USPD, 1922 zurück zur SPD.[18]
Schon Anfang Juni 1908 wählte die Schwartauer SPD die "Genossin Leu" zur Delegierten für eine "General-Versammlung in Eutin".[19] Sie muss also direkt in die SPD eingetreten sein, als es möglich wurde.
Welche Wertschätzung Käthe Leu nicht nur in ihrem Ortsverein, sondern auch in der Region erfuhr, zeigte sich wenig später: Am 11. und 12. September 1908 nahm sie als Delegierte für das Fürstentum Lübeck an der 5. Frauenkonferenz der SPD teil, die im Rahmen des Gesamtparteitages in Nürnberg stattfand.[20] Möglicherweise markierte diese Frauenkonferenz, über die sie am 28. Oktober 1908 im Gasthaus "Transvaal" berichtete[21], eine entscheidende Wende im Leben von Käthe Leu: Eine junge, gerade einmal 27-jährige Mutter, geboren als Tochter eines Arbeiters[22] in einem ostholsteinischen Dorf, reiste gut 700 Kilometer durch das halbe Land, um für zwei Tage auf 73 Gleichgesinnte aus allen Teilen Deutschlands zu treffen, darunter solche Persönlichkeiten wie Clara Zetkin und Luise Zietz. Kein Wunder, dass sich ihre später so oft gerühmte Redebegabung diesmal noch nicht entfaltet und im "Sprechregister" der Frauenkonferenz keine Wortmeldung von Käthe Leu verzeichnet ist.
Am 24. Juli 1910 war die Schwartau-Rensefelder SPD Gastgeberin der Generalversammlung des Sozialdemokratischen Zentralvereins für das Fürstentum Lübeck. Diese fand im "festlich geschmückten Saale" des Gasthauses "Transvaal" statt. Den Berichten der Ortsvereine ist unter anderem zu entnehmen: "In Rensefeld ist die SPD mit 6 Abgeordneten im Gemeinderat vertreten, in Schwartau mit keinem." Etwas verschämt heißt es dazu:
"In Schwartau war das Geschäftsjahr ein ruhiges; ein kleiner Fortschritt ist zu verzeichnen. Infolge der vielseitigen Tätigkeit unserer Genossen im Kommunalleben Rensefelds entstehen der Parteikasse erhebliche Kosten, die in der Abrechnung stark in Erscheinung treten."[23]
Vertreter ihres Ortsvereins waren bei dieser Generalversammlung ein Genosse O. Prüß sowie Käthe und Georg Leu[24]. Letzterer gehörte zu den Delegierten, die für den bevorstehenden Provinzialparteitag (Schleswig-Holstein) gewählt wurden. Auf die Wahl eines Kandidaten für den SPD-Parteitag in Magdeburg (18.-24. September 1910) wurde "mit Rücksicht auf die Kosten" verzichtet.[23] Am 11. September 1910 fand in Neumünster eine Frauenkonferenz für den Bezirk Schleswig-Holstein und das Fürstentum Lübeck statt, bei der Käthe Leu dem Präsidium angehörte. Im ersten Tagesordnungspunkt ging es um den Beschluss des 2. Internationalen Frauenkongresses der Sozialistinnen vom August zur Einführung des Internationalen Frauentags[25] für die Interessen der Frauen gegen Ausbeutung und Unterdrückung. In Neumünster teilte die "Genossin Leu-Schwartau" außerdem mit,
"daß die Schwartauer Genossinnen bei der Gemeindevertretung einen Antrag auf Errichtung von Krippen und Warteschulen gestellt haben. Sie beabsichtigen die ablehnende Antwort, die sie voraussichtlich erhalten, agitatorisch auszunützen."[25]
Über diese Frauenkonferenz in Neumünster berichtete Käthe Leu am 27. September 1910 in einer Versammlung der Stockelsdorfer SPD.
"Genossin Leu feuerte die anwesenden Genossinnen an, mit erneuten Kräften an die Arbeit zu gehen."[26]
Bald darauf trat sie erstmals nach ihrer Teilnahme an der Nürnberger Frauenkonferenz 1908 auch wieder überregional in Erscheinung: Am 30. Januar 1911 berichtete sie in der Gleichheit von einer Agitationsreise, die sie im Auftrag der Partei durch Westpreußen und Posen unternommen hatte. Zum Thema "Freiheit und Brot" hatte sie demnach gesprochen in Jastrow, Thorn, Graudenz, Marienwerder, Elbing und Danzig (Westpreußen) sowie in Bromberg, Nakel, Kolmar, Schönlanke und Schneidemühl (Posen). Mit diesem Bericht gab sie zugleich ihr Debüt als politische Autorin.[27]
Ein Blick auf ihren dicht gedrängten Terminkalender im Frühjahr 1911 zeigt, wie politisches Engagement ihr nun mehr und mehr zur Lebensaufgabe wurde: Auf einem Acker in Schlochau (Westpreußen) trat am 2. April 1911 laut einer Zeitungsmeldung mit "großer Zungenfertigkeit Frau Käte [sic] Leu aus Lübeck" auf.[28] Wenig später berichtete sie erneut von einer Agitationsreise, die sie diesmal durch Mecklenburg und den Lübecker Wahlkreis geführt habe. Sie kam dabei auch in ihre alte Heimat nach Travemünde.[29] Die Schwartauer SPD beschloss im April in einer "vollbesuchte[n] Parteiversammlung, [...] eine Jugendbewegung ins Leben zu rufen, [um die Jugend] im Sinne der Arbeiterschaft zu belehren und zu schulen". In die vorbereitende Kommission wurde neben anderen Käthe Leu gewählt.[30]
Am 30. Juli 1911 sprach sie in Selmsdorf (Mecklenburg) auf einer Volksversammlung zur Gründung eines Konsumvereins. Sie riet dazu,
"nicht selbständig vorzugehen, sondern sich an den Lübecker Konsumverein anzuschließen".[31]
Am 8. August 1911 beteiligten sich Käthe und Georg Leu in der Siedlung "Clever Landwehr" (Rensefeld) an einer Veranstaltung zur bevorstehenden oldenburgischen Landtagswahl am 29. September 1911.[32] Georg Leu war zu dieser Zeit Vorsitzender der Schwartau-Rensefelder SPD.[33]
Im September 1911 meldeten sich Käthe Leu und zwei weitere Sozialdemokraten auf einer liberal-konservativen Wahlkampfveranstaltung in Schwartau zu Wort.
"Es war den Genossen [ein] leichtes, den anwesenden Kleinbürgern zu beweisen, daß die Konservativen und auch die liberalen Kuhhändler die ärgsten Feinde vom Mittelstand sind."[34]
In einer Frauenversammlung im Gasthaus „Transvaal“ am 30. September 1911 wurde die Genossin Käthe Leu feierlich aus Schwartau verabschiedet. Über den Grund ihres Weggangs sowie ihre weiteren Pläne geht aus dem Pressebericht nichts hervor.[35]
Kolmar
In der Gleichheit schrieb im November 1911 Luise Zietz über eine Agitationsreise Käthe Leus im Kampf gegen Lebensmittelteuerungen:
"In der überfüllten Versammlung zu Lübeck referierte unter jubelnder Zustimmung der Anwesenden Genossin Leu, die auch in einer ganzen Anzahl Versammlungen im Kreis Schleswig und in Mecklenburg das Referat erstattete."[36]
Am 10. Dezember 1911 sprach Käthe Leu in Danzig im Lokal "Zum fidelen Bauern" über das Thema "Hungerjahr und Reichstagswahlen".[37] In vergangenen Jahren hatten schon Luise Zietz und Rosa Luxemburg in Westpreußen vor Frauen gesprochen, doch erst Käthe Leu, so der Danziger Sozialdemokrat Ernst Loops (1891-1974), habe sie wirklich erreicht:
"Diese Frauen, mit ihren kleinlichen Tagesnöten, konnten sich keine Begriffe machen von dem unheilvollen Imperialismus, von den Kriegsgefahren im fernen Marokko oder der umstrittenen Bagdadbahn. Von nachhaltiger Wirkung waren erst einige Agitationstouren, die seit 1910 Frau Käthe Leu, aus Lübeck, in Westpreußen unternahm. Diese Rednerin packte die Frauen bei deren eigenem Erleben, deren eigenen Sorgen. Sie wandte sich in ihrer temperamentvollen Redeweise an das proletarische Gefühl ihrer Zuhörerinnen und fand damit begeisterte Zustimmung. Erst jetzt gelang es, in Danzig eine selbständige sozialistische Frauenbewegung ins Leben zu rufen, und als Käthe Leu 1913 ihren Wohnsitz nach Danzig verlegte, wurde sie anerkannte Führerin der sozialistischen Frauenbewegung in Westpreußen."[38]
Ebenfalls im Rahmen des SPD-Reichstagswahlkampfes hielt Käthe Leu am 15. und 22. Dezember 1911 zwei große, dreistündige Reden in Thorn (Westpreußen).
"Mit manchen Ausführungen der rednerisch ziemlich gewandten Genossin konnte man sich wohl einverstanden erklären, aber in ihren Angriffen gegen die bürgerlichen Parteien machte sie sich doch arger Übertreibungen schuldig."[39]
Dieser Artikel ist die bislang einzige Quelle, aus der etwas über die äußere Erscheinung von Käthe Leu zu erfahren ist: Der Autor beschreibt sie als "rundlich", dies möglicherweise aber nur, weil er meinte, auf diese Weise ihre Empörung über die in vielen Arbeiterfamilien herrschende und besonders die Kinder treffende Not lächerlich machen zu können. Ebenso verfuhr die Thorner Presse in ihrem Bericht vom 24. Dezember, in dem "Frau Leu-Lübeck" als "wohlgenährte Hungerapostelin" karikiert wurde.[40]
Am 30. Dezember 1911 erging ein Urteil des Landgerichts Danzig bezüglich einer von Friedrich Grünhagen, SPD-Reichstagskandidat für den Wahlkreis Berent-Pr.-Stargard-Dirschau (Westpreußen), organisierten öffentlichen Versammlung, in der eine "Genossin Leu-Schönlanke" (Posen) "bei den Hausangestellten referierte". Da das Gericht sie als "unpolitisch" einstufte, wurde Friedrich Grünhagen von dem Vorwurf freigesprochen, die Versammlung nicht ordnungsgemäß angemeldet zu haben. Von diesem Urteil berichtete die sozialdemokratische Danziger Volkswacht erst am 15. Juni 1912. Es ist also fraglich, wann Käthe Leu ihren Wohnsitz möglicherweise in Schönlanke hatte.[41]
Am 9. Januar 1912, kurz vor der Reichstagswahl am 12. Januar (Stichwahlen 16., 20. und 25. Januar), berichtete die Volkswacht:
"Unsere tapfere Genossin Leu hielt in der Marienburger Niederung in Lietzau und Kunzendorf zwei wirkungsvolle Versammlungen ab."
In Kunzendorf sei es einem Gendarmen gelungen, "viele Leute" durch Einschüchterung von einem Besuch der Veranstaltung abzuhalten. Der Wirkung von Käthe Leus Auftritt habe das keinen Abbruch getan:
"Manche der Frauen vergossen Tränen, als Genossin Leu zum erstenmale dem Ausdruck gab, was sie jahrelang stummduldend getragen hatten."[42]
Lietzau und Kunzendorf lagen im Wahlkreis Elbing-Marienburg, wo der Parteisekretär für Westpreußen, Arthur Crispien, für die SPD antrat. Die Volkswacht berichtete außerdem von einem Wahlkampfauftritt der "Genossin Käte Leu" in Krojanke. Das Städtchen gehörte zum Wahlkreis Schlochau-Flatow (Marienwerder 7), in dem Konrad Broßwitz (auch: Conrad) für die SPD kandidierte.[43]
Mit den gesellschaftlichen Verhältnissen im Kaiserreich, für deren Überwindung sie sich einsetzte, wurde die Sozialdemokratin ganz persönlich und auf erschütternde Weise konfrontiert: Sie begegnete dem Dienstmädchen Emilie Stein, das vor seiner Herrschaft von einem Gut in Kunzendorf (Kreis Marienburg, Westpreußen) geflohen war. Diese bat darum, "sie doch in ein Gefängnis zu bringen", weil es dort besser sei "als bei der gnädigen Frau". Käthe Leu überzeugte die Schutzsuchende, in ihre Stellung zurückzukehren. Wenig später stellte sich heraus, dass dies kein guter Rat gewesen war: Gemeinsam mit einem anderen Dienstmädchen hatte Emilie Stein auch im Winter in einer ungeheizten Kammer schlafen müssen und versucht, diese mit einem Gefäß voller glühender Kohlen zu erwärmen. Sie starb an Rauchvergiftung, ihre Leidensgefährtin konnte noch gerettet werden.[44]
Im Februar 1912 war Käthe Leu auf Agitationstour im Kreis Eckernförde, in Mecklenburg, Westpreußen und Posen unterwegs.[45] Im September 1912 kehrte sie für einen Auftritt im Bürgerschaftswahlkampf nach Lübeck zurück:
"Genossin Leu, die aus der Lübecker Frauenbewegung hervorgegangen ist, sprach in Lübeck zum ersten Mal in einer großen Versammlung und sie verstand es ausgezeichnet, die mehr als tausendköpfige Menge zu begeistern."[46]
Im Oktober sprach sie auf einer Frauenversammlung in Bromberg darüber, dass sich Frauen um das wirtschaftliche und politische Leben kümmern müssten.[10] Im Mai 1912 referierte "Frau Käte Leu-Schönlanke" in Danzig an zwei Terminen über das Frauenwahlrecht. Unter anderem sagte sie:
"Als vor einigen Wochen mit der Titanic 1600 Menschen ein Grab im Meer fanden, war alle Welt entsetzt. Der deutsche Kaiser schickte ein Beileidstelegramm. Wer aber entsetzt sich über die 9000 Toten, die, ohne die Krüppel, jedes Jahr Opfer unseres Erwerbslebens werden? Als Opfer, weil sie die Bestimmung haben, den Reichtum der Reichen zu mehren! Unsere Brüder, unsere Männer, unsere Söhne sind es! Und wir sollten kein Recht haben, auf die Sozialgesetzgebung und die Parlamente, die sie schaffen, Einfluß zu fordern? Wir wollen dort hinein, müssen dort Sitz und Stimme haben, um unsere Not zu klagen! Männer können nicht so fühlen, wie eine Frau. […] Freilich wir Frauen, die Mütter, würden als Angehörige eines Parlaments niemals eine Wehrvorlage bewilligen! Wir würden uns schön bedanken, unsere Söhne als Kanonenfutter hinzugeben, unsere Kinder zu bewaffnen, damit sie auf Kommando auf Vater und Mutter schießen!"[47]
Zum Thema Frauenwahlrecht sprach "Genossin Leu" erneut im Juli 1912 in Preußisch-Friedland (Westpreußen). Außer dem "überwachenden Polizeibeamten" war auch hier ein Gendarm anwesend. Er wurde darauf hingewiesen, dass "bewaffnete Personen an einer öffentlichen Versammlung nicht teilnehmen dürfen" und verließ "auf energische Aufforderung" die Veranstaltung.[48]
1913 begann mit einer Agitationstour mit 16 Veranstaltungen im Februar und März durch Pommern, um für den Frauentag zu mobilisieren.[49] Beauftragt war Käthe Leu von ihrem Bezirksvorstand. Ihr Thema: Warum müssen sich die Frauen an der Politik beteiligen?[50] Danach ging es auf eine Agitationstour durch Schlesien. In Die Gleichheit berichtete Käthe Leu davon und auch von der Armut, die ihr überall begegnete.[51]
Nach 1913 erschienen keine Artikel mehr über oder von Käthe Leu in Die Gleichheit.
Danzig
1913 zog Käthe Leu mit ihrer Familie nach Danzig.[38]
Am 28. September 1913 kandidierte sie auf der Liste der Freien Gewerkschaften für einen Sitz im Vorstand der Danziger Allgemeinen Ortskrankenkasse[52], am 12. Dezember 1913 wurde sie "endgültig gewählt"[53]. Sie blieb bis Herbst 1921 Mitglied in diesem Gremium.[54].
Als Verantwortlicher für die Danziger Arbeiterjugendbewegung wurde Georg Leu am 8. November 1913 erstmals in der Volkswacht erwähnt[55], im Jahr darauf bezeichnete die Zeitung ihn als "Parteisekretär"[56].
Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 gehört Käthe Leu zunächst zu der Parteimehrheit innerhalb der SPD, die den sogenannten Burgfrieden[57] befürwortete, also die Zurückstellung innenpolitischer Konflikte für die Dauer des Krieges – dies allerdings unter der Voraussetzung, dass es sich um einen "Verteidigungskrieg" mit dem Ziel eines "Verständigungsfriedens" handle[58].
Am 5. April 1915 zum Beispiel beteiligte sie sich in Danzig-Krakau an einer Volksversammlung zum Thema "Krieg und Aushungerung", in der der Genosse Adolf Bartel über "die Bedeutung des zur Vernichtung des deutschen Volkes geführten Weltkrieges" sprach. In der Diskussion forderte Käthe Leu die Frauen auf,
"auch unter den ländlichen Verhältnissen an die armen Mitschwestern zu denken und ihre Not werktätig und durch fühlende Anteilnahme zu lindern".[59]
Noch deutlicher wurde sie am 13. April 1915 in einer Volksversammlung in der westpreußischen Landgemeinde Ohra (heute ein Stadtteil Danzigs), wieder zusammen mit Adolf Bartel.
"In der Debatte [ergänzt] die Genossin Käthe Leu den Appell an den vaterländischen Opfersinn der Frauen, deren Verständnis für die Lage ihres um seine Existenz kämpfenden Volkes über den Sieg endgültig entscheiden werde."[60]
Am von Anfang an brüchigen "Burgfrieden" hielt sie auch dann noch fest, als dieser sich mehr und mehr als Illusion erwies. Ein Beispiel für diese Entwicklung war die am 3. September 1917 erfolgte Gründung der nationalistischen "Deutschen Vaterlandspartei". Diese agitierte erbittert gegen die am 19. Juli 1917 mit Mehrheit von SPD, Linksliberalen und Zentrum vom Deutschen Reichstag verabschiedete Friedensresolution[58] und träumte von weitreichenden Annexionen[61]
In diese Auseinandersetzung griff Käthe Leu am 28. Oktober 1917 in einer Volksversammlung in der Danziger Sporthalle ein, wo der linksliberale Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann die Hauptrede hielt. Sie habe sich mit "kraftvollen" Worten an der anschließenden Diskussion beteiligt: Die "sozialistisch gesinnten Soldaten" würden kämpfen,
"weil sie wissen, daß Deutschland für seine Verteidigung kämpft […]. Diese Stimmung unserer Soldaten würde wesentlich umschlagen, wenn die vaterländischen Eroberungspläne zur Geltung kommen würden."[62]
Dabei konnte sie sich, so wie es auch die SPD tat, auf die Thronrede Kaiser Wilhelms II. vom 4. August 1914 berufen, in der dieser der "Eroberungslust" eine Absage erteilte und mit den Worten "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche" den "Burgfrieden" ausrief[58]. Eine "besondere Vaterlandspartei" zu gründen,
"sei völlig zwecklos, denn die eigentliche Vaterlandspartei sei vom Kaiser am 4. August 1914 gegründet worden. Die gesamten arbeitenden Frauen ständen hinter der Friedensresolution des Reichstags und lehnten es ab, ihre Söhne für Eroberungskriege zu opfern."[63]
Vor diesem Hintergrund erscheint es zunächst überraschend, dass Käthe Leu am 18. Januar 1918 dem Parteisekretariat in Danzig brieflich ihren Austritt aus der SPD mitteilte. Sie hielt sich zu dieser Zeit in Berlin auf, wo sie an einem vom Kriegsministerium veranstalteten "Kriegsernährungslehrgang" teilnahm. Die Volkswacht sprach denn auch von einem "unverständlichen Austritt". Sie zitierte zur Begründung dieses Urteils noch einmal aus der Wortmeldung Käthe Leus vom 28. Oktober 1917 in der Danziger Sporthalle und spekuliert abschließend auf recht gehässige Weise:
"Oder sollten etwa gar die bekanntlich sehr schnell in Fluß zu bringenden Tränendrüsen der Louise Zietz Schuld an dem Gesinnungswandel sein? Auf weichgestimmte Herzen verfehlt ein zur rechten Zeit einsetzender Tränenstrom nie die beabsichtigte Wirkung. Er fordert mit unfehlbarer Sicherheit seine Opfer. Und uns will scheinen, als wenn Käthe Leu ein solches Opfer geworden ist."[64]
Das ist natürlich eine Polemik, vielleicht jedoch eine nicht ganz haltlose. Möglich ist aber auch, dass das maßlose deutsche Auftreten bei den im Dezember 1917 begonnenen Waffenstillstands- und dann Friedensverhandlungen mit Russland[65] Käthe Leu bewog, eine neue politische Heimat bei der in der Frage von Krieg und Frieden für sie offenbar konsequenteren USPD zu suchen.
Novemberrevolution
Am 10. November 1918 erreichte die Novemberrevolution Danzig. Käthe Leu war ganz vorn mit dabei: In einer Massenversammlung auf dem Heumarkt sprach sie für die USPD neben Parteisekretär Julius Gehl (MSPD) vor 15000 Menschen.[66]. Die Republik wurde ausgerufen, Arbeiter- und Soldatenräte gebildet. Käthe Leu wurde Mitglied in deren Aktions- bzw. Vollzugsausschuss. Wie vielerorts in Deutschland beließ dieser auch in Danzig die bisherigen Behördenleiter im Amt, wies ihnen aber "Kontrollorgane" zu. Käthe Leu war gemeinsam mit dem Gewerkschaftssekretär Franz Arczynski (MSPD) für die Aufsicht über den Magistrat zuständig. Ihr Mann Georg Leu wurde für die MSPD zum Geschäftsführer des Vollzugsausschusses gewählt.[67] Die Gefängnisse wurden geöffnet.[68]
Auf einer Massenkundgebung des liberalen Bürgertums in der Danziger Sporthalle am 17. November 1918 traten Käthe Leu und Julius Gehl "für die baldige Einsetzung der Nationalversammlung" ein[69]. Laut Volkswacht forderte Käthe Leu bei dieser Versammlung außerdem,
"daß in der jetzigen Zeit keine Parteipolitik getrieben werde, sondern daß alle an dem großen Ziel der deutschen Demokratie mitarbeiten."[70]
Reichsrätekongress
Auch am 11. Dezember 1918, auf einer Konferenz aller Arbeiter- und Soldatenräte des Regierungsbezirks Danzig, sprachen sich die Vertreter der MSPD, der USPD sowie der Bürgerlichen für eine frühest mögliche Wahl zur Nationalversammlung aus. Zu Delegierten für den ersten Reichsrätekongress, der vom 16.-20. Dezember 1918 in Berlin tagen und über diese Frage entscheiden sollte, wählte die Danziger Konferenz neben drei Männern auch Käthe Leu (USPD)[71]. Sie war zudem die einzige Frau, die während des Kongresses das Wort ergriff - mit Klara Noack aus Dresden (MSPD) war auch nur eine weitere Frau delegiert.
Seine wichtigste Entscheidung traf der Reichsrätekongress am 19. Dezember 1918: Mit überwältigender Mehrheit machte er den Weg frei für die Wahl zu einer Nationalversammlung und damit für eine parlamentarische Demokratie. Dem Antrag von Ernst Däumig (USPD), das Rätesystem beizubehalten und auszugestalten, erteilte er dagegen mit 344 zu 98 Stimmen eine deutliche Abfuhr - und verzichtete damit auf die Macht, die er gerade erst im Verlauf der Revolution erworben hatte[72]. Wie weit sie sich langfristig hätte durchsetzen lassen, lässt sich nicht mehr klären. Zur Mehrheit, die so entschied, gehörte auch Käthe Leu. Allerdings gab sie - gemeinsam mit acht weiteren Delegierten - zu Protokoll,
"daß wir gegen den Antrag Däumig gestimmt haben, weil er das Rätesystem im Gegensatz zur Nationalversammlung als Grundlage der Verfassung erklärt. Wir sind vielmehr der Ansicht, daß das Rätesystem neben der Nationalversammlung zur Förderung der Revolution bestehen bleiben soll." [73]
Am 20. Dezember 1918, dem letzten Tag des Kongresses, folgte dann Käthe Leus historischer Auftritt: Zu diesem Zeitpunkt herrschte im Saal große Unruhe. Kaum zu hören war daher ihr vom Vorsitzenden Robert Leinert (MSPD) verlesener Antrag, dass es "die besondere Aufgabe der Revolution" sei, die "bisher auf allen Lebensgebieten zurückgesetzten Interessen der Frauen überall tatkräftig zu fördern". Ruhig wurde es, als Käthe Leu selbst ihren Antrag begründete.
"Die Erregung der Geister legt sich allmählich, als die erste Frau die Rednertribüne betritt. Sie spricht mit einer bemerkenswerten Fertigkeit für den Ausbau der revolutionären Errungenschaften, der aber nur durch Einigkeit möglich sei."[74]
Dass sie als Frau vor dem Kongress reden dürfe, wertete sie als "Beweis der neuen Zeit". Angesichts einer gewaltigen Masse an "politisch unaufgeklärten Frauen" warb sie dafür, diese in der kurzen Frist bis zur Wahl zur Nationalversammlung "mit dem Sozialismus vertraut" zu machen, wofür eine Bündelung der Kräfte unabdingbar sei. "Stürmischen Beifall" vermerkt das Protokoll zu Käthe Leus Schlusssatz:
"Ihr habt wohl die Macht in Händen, aber nur, wenn ihr euch einig seid."
Ihr Antrag wurde angenommen, obwohl ihn wegen des Lärms nur wenige Delegierte verstanden hatten.[75]
Sie sprach in ihrer Rede zielsicher einen womöglich entscheidenden Nachteil für die Sozialdemokratie bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 an: Augenscheinlich wurde diese gerade von den Frauen nicht dafür belohnt, dass sie sich seit 1891 und bis 1918 als einzige Partei für das Frauenwahlrecht eingesetzt hatte. Das legen jedenfalls die Ergebnisse der Wahlkreise nahe, in denen Frauen und Männer getrennt abstimmten. In Köln zum Beispiel wählten 46,1 % der Männer, aber nur 32,2 % der Frauen die SPD[76], in Regensburg 45,1 % der Männer und 25,1 % der Frauen[77]. Wahlanalysen der Weimarer Zeit sehen im Wahlverhalten der Frauen, das die konservativen Parteien begünstigte, übereinstimmend einen "Ausdruck ihrer stärkeren kirchlichen Bindungen".[78]
Zu beachten ist ferner die Anrede, mit der sie ihre Rede begann und der sie bis heute eine gewisse Bekanntheit verdankt: "Parteigenossen und Parteigenossin!" So machte sie einerseits darauf aufmerksam, dass sich außer ihr nur eine weitere Frau unter den rund 500 Delegierten[72] des Kongresses befand. Andererseits unterstrich sie schon hier ihren Appell an die Einigkeit der beiden sozialdemokratischen Parteien.
In der Wahl zur Nationalversammlung 1919 kandidierte Käthe Leu als Spitzenkandidatin der USPD in Danzig. Die erreichte allerdings nicht genügend Stimmen für ein Mandat.[79]
Zwischenkriegszeit
Ein besonderes Problem für die beiden sozialdemokratischen Parteien in Danzig bestand unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges darin, dass sich hier trotz der Novemberrevolution die alte, noch im Kaiserreich nach dem Dreiklassenwahlrecht gewählte Stadtverordnetenversammlung im Amt halten und ihren Einfluss wahren konnte. Zwar ordnete die neue, sozialdemokratisch geführte Regierung Preußens am 24. Januar 1919 an, die "gegenwärtigen Gemeindevertretungen" aufzulösen und bis spätestens zum 2. März Neuwahlen nach demokratischen Prinzipien durchzuführen[80], doch in einer Nachtragsverordnung vom 31. Januar nahm sie den Regierungsbezirk Oppeln sowie die Provinzen Posen und Westpreußen und damit auch Danzig von dieser Regelung aus [81]. Grund dafür war die Befürchtung, dass es bei den Wahlen in einer Reihe von Gemeinden zu polnischen Mehrheiten kommen könne.[82].
Die Arbeiter- und Soldatenräte Westpreußens protestierten am 10. Februar gegen diese Missachtung nicht nur der "Mitbürger polnischer Nationalität", sondern auch der "deutschen Industrie- und Landarbeiter", doch das war vergeblich: Demokratische Kommunalwahlen fanden in Danzig erst nach dem Abschluss des Versailler Vertrages statt[83].
Ohnehin hatte die Danziger Stadtverordnetenversammlung bereits am 2. Februar 1919 als Nachfolger des am 8. Oktober 1918 verstorbenen Heinrich Scholtz den Geschäftsführer des Deutschen und Preußischen Städtetages, Heinrich Sahm (1877-1939), zum Oberbürgermeister gewählt.[84] Möglicherweise deshalb, weil die Nachtragsverordnung vom 31. Januar vorsah, dass über solche Stellenbesetzungen die letzte Entscheidung beim preußischen Innenministerium lag[81], konnte dabei aber auch der revolutionäre Vollzugsausschuss einen gewissen Einfluss geltend machen. Er verhinderte zunächst die Wahl des ehemaligen preußischen Finanzministers August Lentze (1860-1945) und schlug statt dessen den Danziger Stadtrat Arthur Grünspan (1884-1964) vor, "den aber die bürgerlichen Rechtsparteien ablehnten". Der stramm deutschnationale, aber parteilose und überaus flexible Sahm war also ein Kompromisskandidat. Er wurde gewählt, wie der Zeitzeuge Ernst Loops schreibt,
"nachdem er zuvor Vertretern des Vollzugsausschusses erklärt hatte, daß er immer nur in Übereinstimmung mit der Arbeiterschaft das Stadtregiment ausüben wolle. Ein Versprechen, das später nicht immer gehalten wurde."[83]
Entsprechend gespannt dürfte das Verhältnis Käthe Leus, die vom Vollzugsausschuss ja als "Kontrollorgan" des Magistrats eingesetzt war, zum neuen Oberbürgermeister gewesen sein. In seinen 1939 verfassten Erinnerungen aus meinen Danziger Jahren zeichnete Sahm jedenfalls ein wenig günstiges Bild der Stadt, die er Anfang 1919 vorfand. Er lastete dies insbesondere der Arbeiterschaft an, die von "berüchtigten Leuten" beherrscht worden und "durch die Revolution und Arbeitslosigkeit völlig demoralisiert" gewesen sei. Für den Fall eines von ihm im Prinzip befürworteten militärischen Vorgehens gegen die Polen befürchtete er einen "Generalstreik". Ein Missstand war in seinen Augen auch, dass die Polizei "in der Hauptsache aus sozialistischen Elementen" bestand und in der Stadtverwaltung "zwei Volksbeauftragte" einen "starken Einfluss" ausübten: "der Sozialdemokrat Julius Gehl und die Kommunistin Frau Leu."[84]
Eine Begegnung mit der "Kommunistin", die Heinrich Sahm 1939 nicht festhielt, wurde von Ernst Loops geschildert: Demnach beteiligten sich am 29. Juli 1920 12000 Menschen an einem vom Danziger Gewerkschaftsbund organisierten Protestmarsch gegen die aus seiner Sicht reaktionäre Politik des Oberbürgermeisters. Grund war die Wirtschaftskrise, die das von Deutschland mittlerweile losgelöste Danzig besonders hart traf und deren Auswirkungen auf die Arbeiterschaft noch durch ein aus dem Jahr 1852 stammendes Steuergesetz verschärft wurde. Gegenüber einer Verhandlungsdelegation zeigte sich Sahm an diesem Tag offenbar zu Zugeständnissen bereit. Bevor das bekannt wurde, kam es aber zu einer, so Loops, gefährlichen Eskalation: Ein "Trupp Demonstranten" sei ins Regierungsgebäude eingedrungen und habe
"Oberbürgermeister Sahm auf die Straße geschleppt, wo er von einer kleinen Anzahl wildgewordener Demonstranten schwer mißhandelt wurde. Dem mutigen Eingreifen der Sozialistenführerin Käthe Leu war es zu verdanken, daß Sahm schließlich aus den Händen der wütenden Menge befreit wurde. Er gab dann von der Aufgangstreppe des Volkstages den Massen die Erklärung ab, daß der Staatsrat die geforderte Steuerermäßigung bewilligen werde."[85]
1922 setzte sich Käthe Leu für die Einrichtung eines Jugendheims in Danzig ein. In 32 Schlafzimmern konnten dort bis 125 Jugendliche bis 25 Jahre relativ günstig unterkommen - Kriegswaisen, uneheliche Kinder und Kinder, die von ihren Familien aus dem Umland zur Ausbildung nach Danzig geschickt wurden.[86]
Veröffentlichungen
- Eine Frauenkonferenz für die Provinz Schleswig-Holstein und das Fürstentum Lübeck, Die Gleichheit, 24.10.1910
- Von der Agitation in Westpreußen, Die Gleichheit, 30.01.1911
- Agitationstour durch Mecklenburg, Die Gleichheit, 10.04.1911
- Agitationstour durch Schlesien, Die Gleichheit, 25.6.1913
- Aus den Organisationen in Westpreußen, Die Gleichheit, 9.7.1913
- Rede beim Reichsrätekongress am 6.-20. Dezember 1918 in Berlin
Archive
- Bundesarchiv: B 564/1084 - Analoges Dossier für das BIORAT-Projekt
- Stadtarchiv Köln: Möglicherweise einige ausgedruckte Auszüge und viele diffuse Materialien aus dem Frauenprojekt des GESIS
Literatur
- Roß, Sabine: Politische Partizipation und nationaler Räteparlamentarismus. Determinanten des politischen Handelns der Delegierten zu den Reichsrätekongressen 1918/1919. In: HSR Trans 15 (2004) S. 209 f.
- Braeg, Dieter / Hoffrogge, Ralf: Allgemeiner Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands. 16.–20. Dezember 1918 Berlin – Stenografische Berichte (Berlin 2018), S. 13
Literaturhinweise zur SPD-Geschichte in Danzig:
- Andrzejewski, Marek: Socjaldemokratyczna Partia Wolnego Miasta Gdanska 1920-1936. (Die Sozialdemokratische Partei der Freien Stadt Danzig 1920-1936) (Gdankie Towazustwo Naukowe (Hrsg.), Gdansk 1980)
- Loops, Ernst: Geschichte der Danziger Arbeiterbewegung (Danzig 1929)
Links
- Wikipedia: Käthe Leu
Einzelnachweise
- ↑ Geburtsname laut Heiratsurkunde. Dort die Schreibweise "Katharina" für den Vornamen. Quelle: Archiv der Hansestadt Lübeck, Standesamt I, Heiratsregister 188/1906
- ↑ Geburtsurkunde im Archiv der Hansestadt Lübeck Standesamt II G 1881 49
- ↑ Archiv der Hansestadt Lübeck, Standesamt II, Geburtsregister 53/1899
- ↑ Geschichtswerkstatt Göttingen: Mehr über Dienstmädchen
- ↑ Archiv der Hansestadt Lübeck, Standesamt I, Heiratsregister 188/1906
- ↑ Archiv Bad Schwartau: Melderegister der Gemeinde Schwartau Juni 1904–1913
- ↑ Lübeckisches Adreßbuch für 1909
- ↑ Lübeckisches Adreßbuch für 1910
- ↑ Lübeckisches Adreßbuch für 1911
- ↑ 10,0 10,1 Die Gleichheit, 13.11.1912
- ↑ Vorwärts, 4.6.1913
- ↑ Kafemann, A. W.: Neues Adreßbuch für Danzig und seine Vororte 1914, Seite 294
- ↑ 13,0 13,1 Roß, Sabine: Politische Partizipation und nationaler Räteparlamentarismus: Determinanten des politischen Handelns der Delegierten zu den Reichsrätekongressen 1918/ 1919 ; eine Kollektivbiographie, Historical Social Research, Supplement, 10, 1-390 (1999), S.210
- ↑ 14,0 14,1 14,2 Der Z.d.A. gleichgeschaltet, Danziger Allgemeine Zeitung, 9.5.1933, S. 2
- ↑ Andrzejewski, Marek: Opposition und Widerstand in Danzig 1933 bis 1939 (Bonn 1994) S. 41-44
- ↑ Stark besuchte Antikriegs-Veranstaltungen in Danzig und Zoppot, Danziger Volksstimme, 14.5.1936, S. 4
- ↑ Lübecker Volksbote, 4.11.1907, S.3
- ↑ Die Einigung und die U.S.P., Danziger Volksstimme, 21.11.1922, S. 3
- ↑ Lübecker Volksbote, 9.6.1908, S.3
- ↑ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Nürnberg vom 13. bis 19. September 1908 sowie Bericht über die 5. Frauenkonferenz vom 11. und 12. September 1908 in Nürnberg (Berlin 1908), S. 565 ff., im Digitalisat S. 283 f.
- ↑ Lübecker Volksbote, 26.10.1908], S.3
- ↑ Archiv der Hansestadt Lübeck, Standesamt II (Travemünde), Geburtsregister 49/1881
- ↑ 23,0 23,1 Lübecker Volksbote, 25.7.1910, S. 3
- ↑ Lübecker Volksbote, 5.7.1910, S. 3
- ↑ 25,0 25,1 Die Gleichheit, 24.10.1910
- ↑ Lübecker Volksbote, 29.9.1910, S. 3
- ↑ Die Gleichheit, 30.1.1911
- ↑ Thorner Presse-Ostmärkische Tageszeitung, 5.4.1911, S. 6
- ↑ Die Gleichheit, 10.4.1911
- ↑ Lübecker Volksbote, 22.4.1911, S. 3
- ↑ Lübecker Volksbote, 31.7.1911, S. 3
- ↑ Lübecker Volksbote, 10.8.1911, S. 3
- ↑ Lübecker Volksbote, 16.8.1911, S. 3
- ↑ Lübecker Volksbote, 16.9.1911, S. 3
- ↑ Lübecker Volksbote, 28.9.1911, S. 4
- ↑ Die Gleichheit, 27.11.1911
- ↑ Loops, Ernst: Geschichte der Danziger Arbeiterbewegung (Danzig 1929), Seite 71
- ↑ 38,0 38,1 Loops, Ernst: Geschichte der Danziger Arbeiterbewegung (Danzig 1929), Seite 79
- ↑ Thorner Presse-Ostmärkische Tageszeitung, 17.12.1911, S. 2
- ↑ Thorner Presse-Ostmärkische Tageszeitung, 24.12.1911, S. 7
- ↑ Volkswacht, 15.6.1912, S. 5
- ↑ Volkswacht, 9.1.1912
- ↑ Volkswacht, 9.1.1912, S. 10 f.
- ↑ Volkswacht, 20.1.1912, S. 5
- ↑ Die Gleichheit, 5.2.1912
- ↑ Die Gleichheit, 4.9.1912
- ↑ Volkswacht, 14.5.1912, S. 5
- ↑ Volkswacht, 13.7.1912], S. 7
- ↑ Die Gleichheit, 19.3.1913
- ↑ Die Gleichheit, 16.4.1913
- ↑ Die Gleichheit, 25.6.1913
- ↑ Volkswacht, 1.10.1913, S. 5-6
- ↑ Volkswacht, 17.12.1913, S. 5
- ↑ Danziger Volksstimme, 8.2.1926, S. 7
- ↑ Volkswacht, 8.11.1913, S. 8
- ↑ Volkswacht, 14.3.1914, S. 8
- ↑ Mix, Andreas: Der "Burgfrieden" 1914 (Deutsches Historisches Museum, Berlin 2014)
- ↑ 58,0 58,1 58,2 Thronrede Kaiser Wilhelms II. vor den Abgeordneten des Reichstags, 4. August 1914, Bayerische Staatsbibliothek 2011. Zusammenfassung
- ↑ Volkswacht, 10.4.1915, S. 3
- ↑ Volkswacht, 17.4.1915, S. 3-4
- ↑ Hadry, Sarah: Deutsche Vaterlandspartei in Bayern, 1917/18. In: Historisches Lexikon Bayerns 2007
- ↑ Thorner Presse-Ostmärkische Tageszeitung, 31.10.1917, S. 3
- ↑ Volkswacht, 3.11.1917], S. 5
- ↑ Kommentar: Ein unverständlicher Austritt, Volkswacht, 26.1.1918, S. 6
- ↑ Wichmann, Manfred: Der Frieden von Brest-Litowsk 1918 (Deutsches Historisches Museum, Berlin 2015)
- ↑ Kampf, Andrea: Frauenpolitik und politisches Handeln von Frauen während der Bayerischen Revolution 1918/19 (Hagen 2016), S. 336
- ↑ Loops, Ernst: Geschichte der Danziger Arbeiterbewegung, Danzig 1929, Seite 168 ff.
- ↑ Danziger Jahreschronik im Adressbuch von 1919, zitiert laut: Danziger Jahreschroniken 1904-1934
- ↑ Thorner Presse-Ostmärkische Tageszeitung, 20.11.1918, S. 1
- ↑ Volkswacht, 23.11.1918], S. 3
- ↑ Loops, Ernst: Geschichte der Danziger Arbeiterbewegung (Danzig 1929), Seite 172
- ↑ 72,0 72,1 Scriba, Arnulf: Der Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte (Deutsches Historisches Museum, Berlin 2014)
- ↑ Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands: Raetekongress 16.-21.12.1918 (8. Sitzung) 124-154.pdf Stenographische Berichte - 8. Sitzung, Donnerstag, den 19. Dezember 1918, nachmittags, S. 150
- ↑ Berliner Tageblatt, 20.12.1918, S. 2
- ↑ Braeg, Dieter / Hoffrogge, Ralf (Hg.): Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands, 16.-20. Dezember 1918 Berlin (Stenographische Berichte, Berlin 2018), S. 510 f. Zitiert nach: Aufruhr im Reichsrätekongreß - Genossin Leu sorgt für Ruhe
- ↑ Winkler, Heinrich August: Weimar 1918 - 1933: die Geschichte der ersten deutschen Demokratie (München 1993), S. 70
- ↑ Graf, Hans Joachim: Eine Analyse der Regensburger Reichstagswahlergebnisse von 1912 bis 1933. In: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg, 135. Band (1995), S. 203
- ↑ Notz, Gisela: "Her mit dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht für Mann und Frau!" – Die internationale sozialistische Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Kampf um das Frauenwahlrecht. In: Gesprächskreis Geschichte, Heft 80 (Bonn 2008), S.44
- ↑ Loops, Ernst: Geschichte der Danziger Arbeiterbewegung (Danzig 1929), Seite 179
- ↑ Preußische Gesetzsammlung, Jahrgang 1919, Nr. 6 vom 24. Januar 1919 §§ 1, 2 und 7
- ↑ 81,0 81,1 Preußische Gesetzsammlung, Jahrgang 1919, Nr. 7 vom 31. Januar 1919, § 5
- ↑ Gerlach, Hellmut von: Der Zusammenbruch der deutschen Polenpolitik (Berlin 1919), Seite 19 f.
- ↑ 83,0 83,1 Loops, Ernst: Geschichte der Danziger Arbeiterbewegung (Danzig 1929), Seite 180 f.
- ↑ 84,0 84,1 Sahm, Heinrich: Erinnerungen aus meinen Danziger Jahren 1919–1930 (Marburg 1958, als Manuskript gedruckt), Seite 1-5
- ↑ Loops, Ernst: Geschichte der Danziger Arbeiterbewegung (Danzig 1929), Seite 189 ff.
- ↑ Danziger Volksstimme, 12.10.1927, S. 3