SPD-Parteitag 1890, Halle/Saale

Aus SPD Geschichtswerkstatt

Der SPD-Parteitag 1890 fand vom 12. bis 18. Oktober in Halle a. d. Saale statt.

Dies war faktisch der erste Parteitag oder "Kongress" der Gesamtpartei nach dem Auslaufen des Sozialistengesetzes und wohl der erste überhaupt, für den ein gedrucktes Protokoll vorliegt. Damit lassen sich Antworten auf Detailfragen ermitteln, etwa, wer aus Schleswig-Holstein teilnahm und wer sich - und wozu - zu Wort meldete.

Wilhelm Liebknecht eröffnete ihn als Alterspräsident mit einer Rede, die die vergangenen 13 Jahre in den Blick nahm, und hob hervor, wie sehr gestärkt die SPD aus der Verbotszeit hervorgegangen sei. Seine Rede machte das daraus erwachsene Selbstbewusstsein deutlich - er sprach von einem "weltgeschichtlichen Moment": Das Proletariat sei "eine Macht geworden".[1]

Inhalte

Zentraler Punkt war die Umbenennung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), was durchaus nicht bei allen auf sofortige Zustimmung traf.

"Der Parteitag nimmt ein neues Organisationsstatut an: Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) ist jede Person, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und die Partei nach Kräften unterstützt. Aus vereinsrechtlichen Gründen wird die Organisation auf dem Vertrauensmännersystem aufgebaut. Der Arbeiterwahlverein in den Wahlkreisen und Städten ist meistens die lokale Organisation. Die Vertrauensmänner müssen in öffentlichen Versammlungen gewählt werden."[2]

Zunächst war vorgeschlagen worden, dass zur Bedingung für die Parteimitgliedschaft auch die „dauernde materielle Unterstützung“ gehören müsse, doch dieser Punkt wurde nicht nur wegen des Widerstands einiger Delegierter fallen gelassen, sondern vor allem auch wegen des juristischen Rats, dass die Partei dadurch zu einem verbotenen überörtlich verbundenen politischen Verein werden könne.[3]

Neben den Berichten der Parteiführung und der Reichstagsfraktion, den anstehenden Wahlen und den in Zukunft ständigen Themen Parteiorganisation, Parteiprogramm und Parteipresse stand auf der Tagesordnung eine große Aussprache zur "Stellung der Partei zu Strikes und Boycotts". In den Diskussionen wurden sich durchziehende Konflikte aus der Zeit des Sozialistengesetzes oder sogar früher deutlich, vor allem mit einer - offensichtlich kleinen, aber hartnäckigen - Minderheit in Berlin, vertreten vom Genossen Werner (über den nichts Näheres ermittelt).

Außerdem waren sechs Anträge an den Parteitag zu verhandeln, darüber hinaus "einige zwanzig", die erst am Vortag eingegangen waren und nicht mehr rechtzeitig gedruckt werden konnten. Mehrere Anträge bezogen sich auf die vergangenen zwölf Verbotsjahre. Helma Steinbach sprach sich gegen einen Antrag zum Arbeitsschutz für Frauen aus mit dem Argument, Männer müssten vor krank machenden Arbeitsbedingungen im Interesse ihrer Familien ebenfalls geschützt werden, man möge die Beschränkung auf Frauen weglassen.[4] Ein weiterer hatte die Revision der deutschen Seemannsordnung zum Ziel; zu ihm sprach Theodor Schwartz, der selbst auf deutschen Schiffen gefahren war.[5]

Name der Partei

In dem von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion erarbeiteten, am 9. August 1890 in Der Sozialdemokrat veröffentlichten Organisationsentwurf wurde als Parteiname sozial-demokratische Partei Deutschlands verwendet.[6]

In den folgenden zwei Monaten wurde der Entwurf und mit ihm die Frage des künftigen Parteinamens deutschlandweit auf Versammlungen diskutiert. In Hamburg erklärte beispielsweise der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Metzger den neuen Namen vornehmlich mit zwei Argumenten[7]: Die Ausnahmegesetze seien nicht gegen die Arbeiter, sondern gegen die Sozialdemokraten erlassen. Nicht die Arbeiter, sondern die Sozialdemokraten seien verfolgt worden. Außerdem könnten sich auch Parteien anderer politischer Richtung Arbeiterpartei nennen.[8] In einer anderen Hamburger Volksversammlung sagte der Reichstagsabgeordnete Förster, er könne in der Neubenennung „keinen Fehler erkennen, denn unsere Partei fasse den Begriff 'Arbeiter' so weit, wie er im gewöhnlichen Sprachgebrauch nicht angewendet werde, indem sie darin Jeden einbegreife, der eine der Gesellschaft nützliche Thätigkeit entfalte. Es gebe schon heute eine große Anzahl Leute, welche nicht als Arbeiter im engeren Sinne gelten, sich aber voll zu den Prinzipien der Sozialdemokratie bekennen.“[9]

Wie über diese Frage in Schleswig-Holstein diskutiert wurde, ist (bislang) nicht ermittelt.

Unter dem Tagesordnungspunkt 4 - Die Organisation der Partei - sprach der Berichterstatter Ignaz Auer auf dem Parteitag eher beiläufig über den Vorschlag:

"Zunächst ist eine Änderung des Namens vorgeschlagen; wir sollen uns von jetzt ab sozialdemokratische Partei nennen. Bisher war der offizielle Parteititel: Sozialistische Arbeiterpartei. Bei der seinerzeitigen Wahl dieses Namens wurde von einflussreichen Genossen auseinandergesetzt, daß eine sozialistische Partei eo ipso eine demokratische sein müsse. Diese Auffassung lässt sich heute, wo alle Welt in Sozialismus macht, wohl nicht mehr gut aufrecht halten. Doch das sind Formsachen; wir bleiben, gleichgültig wie wir uns nennen, was wir waren."Protokoll, S. 119 f.</ref>

Ihm widersprach unter dem Tagesordnungspunkt 6 - Das Programm der Partei - der Berichterstatter Wilhelm Liebknecht:

"Es ist zunächst Anstand genommen worden an dem Namen unserer Partei: Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Schon auf dem Einigungskongreß [1875 in Gotha] ist darüber viel gesprochen worden, aber damals war man einhellig der Meinung, dieser Name sei der passendste. Es wurde ausgeführt, daß jede sozialistische Partei nothwendig eine demokratische sein muss. Und der Ausdruck 'Arbeiterpartei' ward gewählt, weil wir von der Arbeiterklasse als solcher die Durchführung dieses Programms erwarten. Wir wissen ja, daß edeldenkende, erleuchtete Männer aus den sogenannten 'höheren', herrschenden Klassen an dem Emanzipationskampfe der Arbeiterklasse theilnehmen; aber das sind Ausnahmen, die Masse dieser 'höheren' Klassen ist aus Klassenbewusstsein und Klasseninteresse uns feindlich — der Befreiungskampf der Unterdrückten kann also nur von der Arbeiterklasse geführt werden. Darum glaube ich, wir werden es bei dem alten Namen belassen, wie wir auch in dem Entwurf der Fraktion ihn beibehalten haben."[10]

Auch der Name Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Deutschlands) scheint (wieder) in Betracht gezogen worden zu sein.[11]

Der Ausgang ist bekannt.

Delegierte

Insgesamt nahmen an diesem Parteitag "der neuen Aera" 413 Delegierte teil, davon fünf Frauen.[12] Für die schleswig-holsteinischen Wahlkreise sind folgende Delegierte aufgeführt[13]:

Außerdem nahmen für den Wahlkreis Lübeck teil Genosse Pape und Theodor Schwartz, für Oldenburg/Old. u.a. Paul Hug, für Gera Helma Steinbach (irrtümlich als "Helene" angekündigt[16]), für Dortmund Carl Wilhelm Tölcke, der auch als Agitator in Schleswig-Holstein aktiv gewesen war. Er hielt zum Abschluss des Parteitages eine sehr persönlich gehaltene, emotionale Rede.[17]

Verschiedenes

Stephan Heinzel wurde in die Mandatsprüfungskommission gewählt, verzichtete aber auf seinen Sitz zugunsten eines süddeutschen Delegierten auf die Beschwerde hin, der Süden sei nicht vertreten.[18]

Ein Delegierter, der langjährige Hamburger Vertrauensmann Heinrich Baumgarten, starb während des Parteitages am Vormittag des 17. Oktober mit nur 44 Jahren an einem Schlaganfall.[19] Die Delegierten gaben seinem Sarg am Ende des Tages das Ehrengeleit zum Bahnhof; die Partei übernahm die Beisetzungskosten.[20]

Quellen

Einzelnachweise

  1. Protokoll, S. 11 ff.
  2. Osterroth, Franz / Schuster, Dieter: Stichtag 12./18. Oktober 1890. in: Chronik der deutschen Sozialdemokratie. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1975. Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001
  3. Protokoll S. 120
  4. Protokoll, S. 196
  5. Protokoll, S. 267 f.
  6. Der Sozialdemokrat, 9.8.1890, S. 1 f.
  7. Hamburgischer Correspondent, 2.10.1890, S. 3, Hamburger Echo, 3.10.1890, S. 2
  8. Tatsächlich war 1878 die antisemitische Christlichsoziale Arbeiterpartei gegründet worden, die sich explizit gegen die Sozialdemokratie richtete. 1881 hatte sie ihren Namen allerdings bereits geändert.
  9. Hamburger Echo, 3.10.1890, S. 2
  10. Protokoll S. 160
  11. Protokoll S. 119
  12. Protokoll, S. 115
  13. Protokoll, S. 305-314
  14. Itzehoe, Hamburgischer Correspondent, 5.10.1890, Seite 18
  15. Evtl. Heinrich Knuth, später Pinneberg
  16. Protokoll, S. 113
  17. Protokoll, S. 296 f.
  18. Protokoll, S. 17
  19. Protokoll, S. 240 f.
  20. Protokoll, S. 261 f.