Norbert Gansel: Unterschied zwischen den Versionen
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'''Norbert | '''Norbert Tronje Gansel''', * [[5. August]] [[1940]] in Kiel; Jurist, Bundestagsabgeordneter, erster direkt gewählter [[OberbürgermeisterIn Kiel|Kieler Oberbürgermeister]]. Mitglied der SPD seit [[1965]]. | ||
== | ==Leben & Beruf== | ||
Norbert Gansel wuchs im Kieler Stadtteil [[Ortsverein Kiel-Wik|Wik]] auf; sein Vater gehörte der Wehrmacht an. | Norbert Gansel wuchs im Kieler Stadtteil [[Ortsverein Kiel-Wik|Wik]] auf; sein Vater gehörte der Wehrmacht an. | ||
Nach dem Abitur | Nach dem Abitur an der Hebbelschule leistete er ab [[1960]] bei der Bundesmarine seinen Wehrdienst, den er als Leutnant zur See der Reserve beendete. Von [[1962]] bis [[1969]] studierte er Geschichte, Politikwissenschaft, Rechts- und Staatswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und war von [[1966]] bis [[1969]] Stipendiat der [[Friedrich-Ebert-Stiftung]]. Von [[1963]] bis [[1966]] war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft bei Prof. [[Michael Freund]]. [[1973]] legte er sein zweites juristisches Staatsexamen ab. | ||
Er ist oder war Mitglied in der Gewerkschaft verdi | Er ist oder war Mitglied im Postsportverein, wo er [[1958]] Deutscher Meister im Luftgewehrschießen wurde<ref>“Postsportverein feiert heute 75. Geburtstag“, ''Kieler Express'' 28.9.2002</ref>, in der Gewerkschaft ÖTV (später verdi), in der [[Arbeiterwohlfahrt (AWO)]], im Vorstand der "Atlantikbrücke" und im Kuratorium des Leo-Baeck-Instituts. Von [[2004]] bis [[2009]] hatte er einen Lehrauftrag an seinem alten Institut (jetzt Institut für Sozialwissenschaften) an der CAU. | ||
Er | Schon bei seiner Verabschiedung als OB hieß es, "der Privatmann Norbert Gansel [ist] weitgehend, auch den Kielern, ein Unbekannter geblieben. Er hat es geschafft, seine Amtstätigkeit vom Privatleben zu trennen. [...] Nur enge Freunde versichern glaubhaft, dass Norbert ein sehr familiärer Mensch ist. Neben Familie, Haus, Garten, Marine heißt sein Hobby KIEL."<ref>Vgl. [[Cathy Kietzer: Abschiedsrede für Norbert Gansel als Oberbürgermeister von Kiel]]</ref> | ||
Mit seiner Frau Lesley Gansel, geb. Nicholson, lebt er in einem denkmalgeschützten Bauernhaus in Kiel-Meimersdorf. Das Ehepaar hat eine Tochter.<ref>kiel.de [http://kiel.de/rathaus/_meldungen/_meldung.php?id=51041 ''Kiel gratuliert: Alt-Oberbürgermeister Norbert Gansel wird 75''], 570/3. August 2015/ang</ref> | |||
[[ | ==Partei & Politik== | ||
Nach eigenen Angaben trat Norbert Gansel am Abend der [[Bundestagswahl 1965]] in die SPD ein<ref>Das wäre der [[19. September]] gewesen; im Landtagsinformationssystem gibt Norbert Gansel "November 1965" an.</ref>, nachdem ein Kommilitone auf seine trotzige Aussage, nach der unverdienten Niederlage des tollen Kandidaten [[Willy Brandt]] müsse man nun eigentlich erst recht SPD-Mitglied werden, ein Beitrittsformular aus der Jackentasche gezogen hatte.<ref>Podiumsgespräch bei der "Willy-Brandt-Matinee" des [[Kreisverband Kiel - Arbeitskreis Geschichte/Kultur|Arbeitskreises Geschichte der Kieler SPD]], 30.11.2013</ref> Seitdem ist er Mitglied im [[Kreisverband Kiel]]. | |||
[[1967]] wurde er stellvertretender [[Jusos - Landesvorstände|Juso-Landesvorsitzender]], [[1969]] stellvertretender Bundesvorsitzender der [[Jusos|Jungsozialisten]]. Auf der Bundeskonferenz in Bremen im Dezember [[1970]] bewarb er sich um das Amt des Bundesvorsitzenden, unterlag jedoch gegen [[Karsten Voigt]]. | |||
Auch auf dem SPD-Parteitag in Saarbrücken im Mai [[1970]] hatte er sich nicht durchsetzen können - er war für den stellvertretenden Parteivorsitz gegen [[Helmut Schmidt]] angetreten, hatte jedoch nur 65 der 321 Delegierten von sich überzeugen können.<ref>Weber, Petra: ''Carlo Schmid 1896-1979. Eine Biographie'' (Frankfurt/Main 1998), S. 751</ref> | |||
Ab [[1968]] war er Mitglied, [[1986]] bis [[1991]] Vorsitzender des Bundesparteirates, von [[1991]] bis [[1996]] Mitglied im Parteivorstand. | Ab [[1968]] war er Mitglied, [[1986]] bis [[1991]] Vorsitzender des Bundesparteirates, von [[1991]] bis [[1996]] Mitglied im Parteivorstand. | ||
=== Bundestag === | ===Bundestag=== | ||
[[Datei:Fotos 15345.jpg|thumb| | [[Datei:Fotos 15345.jpg|thumb|right|180px|Norbert Gansel, 1972]] | ||
Von [[1972]] bis [[1997]] war er Mitglied des Bundestages, jeweils direkt gewählt für den Wahlkreis 5 ( | [[Datei:Wahlplakat Norbert Gansel 1994.jpg|thumb|right|180px|Wahlplakat für Norbert Gansel aus dem Bundestagswahlkampf 1994]] | ||
*[[1972]]-[[1980]] Mitglied im Ausschuß für Arbeit und Soziales | Von [[1972]] bis [[1997]] war er Mitglied des Bundestages, jeweils direkt gewählt für den Wahlkreis 6 (später 5, Kiel). Es heißt, er sei der letzte politische "Zögling" des 75-jährigen [[Carlo Schmid]] gewesen, den er auf dem SPD-Parteitag im November [[1971]] eher zufällig kennenlernte und mit dem er später eng befreundet war. Im Wahlkampf [[Bundestagswahl 1972|1972]] sprach Carlo Schmid, der Wahlkämpfe verabscheute, für ihn auf einer Wahlkundgebung in [[Kreisverband Kiel|Kiel]].<ref>Weber, Petra: ''Carlo Schmid 1896-1979. Eine Biographie'' (Frankfurt/Main 1998), S. 752, 755</ref> | ||
*[[1980]]-[[1997]] Mitglied im Auswärtigen Ausschuß, seit [[1994]] stellvertretender Vorsitzender | |||
*[[1983]]-[[1987]] Sprecher der SPD in der Nordatlantischen Versammlung und in der Versammlung der Westeuropäischen Union | Im Laufe der Zeit bekleidete er u.a. folgende Funktionen: | ||
*[[1986]]-[[1990]] Obmann der Bundestagsfraktion im U-Boot-Untersuchungsausschuß | *[[1972]]-[[1980]] Mitglied im Ausschuß für Arbeit und Soziales; | ||
*[[1980]]-[[1997]] Mitglied im Auswärtigen Ausschuß, seit [[1994]] stellvertretender Vorsitzender; | |||
*[[1983]]-[[1987]] Sprecher der SPD in der Nordatlantischen Versammlung und in der Versammlung der Westeuropäischen Union; | |||
*[[1986]]-[[1990]] Obmann der Bundestagsfraktion im U-Boot-Untersuchungsausschuß; | |||
*[[1991]] stellvertretender Vorsitzender, dann Vorsitzender des Arbeitskreises I (Außen- und Sicherheitspolitik, Europa- und Entwicklungspolitik) der Bundestagsfraktion | *[[1991]] stellvertretender Vorsitzender, dann Vorsitzender des Arbeitskreises I (Außen- und Sicherheitspolitik, Europa- und Entwicklungspolitik) der Bundestagsfraktion | ||
<blockquote>"Gansel ist unbequem, weil er intellektuell aufrichtig ist. Es ficht ihn nicht an, seine Position mit Argumenten der Vernunft zu vertreten, selbst wenn ein Saal voller Delegierter sich gegen ihn stellt: Fast allein stimmte er auf einem [[Landesparteitag 1981, Harrislee|Landesparteitag]] für die Nachrüstung<ref>Dies dürfte in Harrislee gewesen sein, wo ein "Beschluss zur Friedenspolitik (1981)" gefasst wurde, der sich gegen die Nachrüstung stellte.</ref>; er kämpfte für die Petersberger Beschlüsse seiner Partei zum Asylrecht und für eine Bewegung der SPD in der Blauhelmfrage."<ref>Gaschke, Susanne: ''[https://www.zeit.de/1996/21/Schafft_es_der_Moralist_/komplettansicht Schafft es der Moralist?]'', DIE ZEIT, 17.5.1996</ref></blockquote> | |||
Es dürfte ihm jedoch bewusst gewesen sein, dass es nicht zuletzt diese Alleingänge waren, die ihm Aufmerksamkeit und dauerhafte Bekanntheit sicherten. | |||
===Der "gläserne Abgeordnete"=== | |||
In seiner Zeit im Bundestag setzte sich Norbert Gansel immer wieder für [[Der gläserne Abgeordnete|Transparenz bei den Abgeordnetenbezügen und Nebeneinkommen]] ein. Er selbst ging mit gutem Beispiel voran: | |||
<blockquote>"Einmal jährlich schaltete Gansel eine halbseitige Anzeige in der lokalen Zeitung und listete Einnahmen, Ausgaben und den Steuerbescheid auf. Selbst die Finanzierung seines Hauses wie sämtliche Kontostände legte Gansel offen. Später legte er all diese Auskünfte dem [[Kreisverband Kiel - Kreisparteitag|Parteitag]] der [[Kreisverband Kiel|Kieler SPD]] vor und verschickte sie auf Wunsch."<ref>Daniel Friedrich Sturm: ''[http://www.welt.de/welt_print/article1005456/Deutschlands-glaesernste-Abgeordnete.html Deutschlands gläsernste Abgeordnete]'', ''Die Welt'', 7.7.2007</ref></blockquote> | |||
Seine Nachfolger [[Hans-Peter Bartels]] und [[Mathias Stein]] hielten bzw. halten es ähnlich. | |||
Nach dem "Diäten-Urteil"<ref>[http://www.transparency.de/fileadmin/pdfs/Themen/Politik/Diaetenurteil_1975.pdf Bundesverfassungsgericht BVerfGE 40, 296]</ref><ref>Gert Flegelskamp: [http://www.flegel-g.de/folge-diaeten-urteil.html Chronik der Beschlüsse des Bundestages als Folge des Diäten-Urteils], erstellt 17.6.2008, abgerufen 28.7.2020</ref> des Bundesverfassungsgerichts wurde [[1975]] neu über die Bezahlung von Abgeordneten diskutiert. Statt steuerfreier 3850 DM sollten sie versteuerte 7500 DM pro Monat bekommen. Norbert Gansel protestierte unter anderem gegen eine steuerfreie "Amtsausstattung", für deren Verwendung keine Überprüfung vorgesehen war: | |||
: | <blockquote>"Es ist schwierig, politisch für mehr Einkommensgerechtigkeit einzutreten, wenn diejenigen, die sie durchsetzen wollen, sich Privilegien verschaffen."<ref>[http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41124825.html ''Bonner Gehaltserhöhungen''], DER SPIEGEL, 29.11.1976</ref></blockquote> | ||
[[Datei:Fotos 13784.jpg|thumb|right|180px|Wahlkreiskonferenz der SPD Kiel, 1975]][[1976]] schlug er vor, die Abgeordnetendiäten in Zukunft jährlich nur um den Prozentsatz zu erhöhen, um den auch die Renten aus der Sozialversicherung stiegen: | |||
<blockquote>"Draußen bin ich dafür bejubelt worden, drinnen wäre ich fast gelyncht worden; für einen Abgeordneten keine glückliche Position, der ja nicht nur draußen gewählt werden will, sondern drinnen auch etwas bewirken will."<ref>[http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/13/13055.pdf Plenarprotokoll des Bundestages, 55. Sitzung], 21.9.1995</ref></blockquote> | |||
Er versuchte auch durchzusetzen, dass Abgeordneten auf Inlandsflügen nur noch Economy-Class zustehen sollte: | |||
<blockquote>"[Er] stieß sich an einem "peinlichen Privileg" für Bonner Abgeordnete und bat Bundestagspräsidentin [[Annemarie Renger]], zu überprüfen, ob die Parlamentarier im innerdeutschen Flugverkehr nicht besser Touristenklasse statt 1. Klasse fliegen sollten. Die Mehrkosten für die Nobelflüge der Volksvertreter, schätzt Gansel, würden sich auf rund eine Million Mark pro Jahr belaufen. Doch von dem Sparvorschlag hielt die Präsidentin nichts. 'In analoger Anwendung' des Diätengesetzes, so beschied sie den Linksparlamentarier, 'besteht auch bei Inlandsflügen ein Anspruch auf die Benutzung der 1. Klasse.' Gansel kann dem Rengerschen Analogie-Schluß nichts abgewinnen: 'Das heißt doch wohl: Ausland im Sinne des Diäten-Gesetzes ist für Abgeordnete auch Inland.'<ref>[http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41238297.html ''Personalien''], DER SPIEGEL, 12.4.1976</ref></blockquote> | |||
[[ | ===Transparenz von Wahlen=== | ||
Demokratische Transparenz verlangte Norbert Gansel auch für die Wahl der Regierungschefs in Bund und Ländern. Nachdem Ernst Albrecht in Niedersachsen offenbar mit Hilfe von Überläufern aus dem sozialliberalen Lager zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, setzte er sich für die Aufhebung der geheimen Wahl ein und bezog sich dabei auch auf das Misstrauensvotum gegen [[Willy Brandt]] von [[1972]]. <blockquote>"Was Bonn [1972] durchgemacht hat, wird heute [1976] in Hannover durchlitten: die Spekulation auf Überläufer, der Triumph der Feigheit im Parlament, die große Stunde der Denunzianten in den Fraktionen, der provozierte Bruch in der Koalition, die drohende Regierungsunfähigkeit."<ref>Norbert Gansel: ''Schluss mit der Geheimniskrämerei'', ''Stern'', 22.1.1976, S. 20.</ref></blockquote> Unmittelbar vor der Bundeskanzlerwahl [[1994]] nahm er seine Forderung noch einmal auf.<ref>Norbert Gansel: ''Sechs Anmerkungen zur morgigen Kanzlerwahl. Ein Plädoyer gegen verdeckte Stimmzettel und für offene Kontroversen'', ''Sozialdemokratischer Pressedienst'', 14.11.1994, S. 1 f.</ref> Er konnte nicht voraussehen, dass auch der schleswig-holsteinische Landtag sich nach der [[Landtagswahl 2005]] in dieser Situation wiederfinden sollte. | |||
==="Schubladenaffäre"=== | |||
Im Rahmen der Aufklärung der "Schubladenaffäre" geriet er in Konflikt mit [[Björn Engholm]] und der [[Landesvorstand|Landesspitze]], da er frühzeitig forderte, dass ungeachtet der Auswirkungen sämtliches eigenes Wissen rückhaltlos benannt werden müsse.[[Datei:Gansel-1991-Talkshow.jpeg|200px|thumb|right|Norbert Gansel 1991 in der Talkshow "0137"]] | |||
<blockquote>"[[Gert Börnsen]] hat ihm nicht vergessen, daß er an seinem Sturz als Vorsitzender der Landtagsfraktion beteiligt war; etliche verübeln Gansel seine Rolle als konsequenter 'Aufklärer' in der Schubladenaffäre."<ref>Gaschke, Susanne: ''[https://www.zeit.de/1996/21/Schafft_es_der_Moralist_/komplettansicht Schafft es der Moralist?]'', DIE ZEIT, 17.5.1996</ref></blockquote> | |||
[[1991]] grenzte er sich noch einmal von [[Björn Engholm]] ab: <blockquote>"Wir sind ganz andere Typen. Der Unterschied zwischen uns ist so groß: Der eine kommt aus Lübeck und der andere kommt aus Kiel. Lübeck ist die feine Hansestadt und Kiel ist etwas - na, wie soll ich sagen - ein bisschen proletarisch zusammengewürfelt; wir haben keine Ahnengalerien, sondern Kiel ist eine Stadt, die mit der Marine übrigens groß geworden [ist]. Wir Kieler sind ein Mischmasch [...]. [Von meinen Eltern] hab ich den Dickschädel geerbt, ich hab eine andere Art, mich durchzusetzen, als Björn Engholm."<ref>So 1991 in der Talkshow "0137" im Interview mit Roger Willemsen.</ref></blockquote>Als Björn Engholm [[1993]] als Ministerpräsident zurücktrat, bekundete Norbert Gansel Interesse an dessen Nachfolge. Der Landesvorstand entschied sich für [[Heide Simonis]] als erste Frau als Ministerpräsidentin in der Geschichte der Bundesrepublik.<ref>{{Kuhlwein links dickschädelig und frei}}, Seite 193</ref> | |||
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===Weitere Aktivitäten=== | |||
Schon vor [[1977]] plante er, zusammen mit [[Henning Scherf]], ein Buch über die "Machtverfilzung" in der SPD zu schreiben, d.h. über die damals durchaus üblichen Mehrfachmandate und Ämterhäufungen. Davon nahmen sie Abstand. | |||
<blockquote>"'Wir hätten uns', entschuldigt sich Scherf, 'dann den Vorwurf der Illoyalität eingeheimst.'"<ref>''Ganz weiche Stelle'', DER SPIEGEL, 3.1.1977</ref></blockquote> | |||
Während seiner Amtszeit geriet er zunehmend in - auch öffentlich ausgetragenen - Gegensatz zu | DER SPIEGEL berichtete auch - in einer Serie zum 25. Jahrestag des Mauerfalls - dass die "kluge und kämpferische Rede", die [[Ibrahim Böhme]], neu gewählter Vorsitzender der DDR-SPD, auf dem Parteitag in Leipzig am [[24. Februar]] [[1990]] hielt, aus Norbert Gansels Feder geflossen sei.<ref>DER SPIEGEL, 27.10.2014</ref> | ||
[[1995]] stellte er eine Anfrage an die Bundestagsverwaltung, wo er sein Elektroauto "Golf Citystromer", das ihm VW für drei Monate zur Verfügung gestellt hatte, aufladen könne. Ihm wurde geantwortet, es müsse wohl ein Zwischenzähler eingebaut werden, damit man ihm die Stromkosten in Rechnung stellen könne. Darauf verzichtete er.<ref>[http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9231295.html ''Personalien: Norbert Gansel''], DER SPIEGEL, 13.11.1995</ref> | |||
===Oberbürgermeister=== | |||
[[datei:Norbert Gansel 2013.jpg|thumb|left|180px|Norbert Gansel, 2013]]Am [[17. Juni]] [[1997]] wurde Norbert Gansel erster direkt gewählter [[Kreisverband Kiel - Stadtregierung|Oberbürgermeister]] der [[Kreisverband Kiel|Landeshauptstadt Kiel]]. | |||
In seiner Kandidatur kamen zwei Interessen zusammen: Die SPD musste, nachdem [[Otto Kelling]] mit ihren Stimmen abgewählt worden war, für die Neuwahl, die nach der Abschaffung der Magistratsverfassung zum erstenmal eine Direktwahl sein würde, einen bekannten und populären Kandidaten finden, um erfolgreich zu sein. Norbert Gansels Situation als Abgeordneter war zu dieser Zeit schwierig: | |||
<blockquote>"In Bonn haben die Genossen den moralischen Rigoristen Gansel in eine Sackgasse gedrängelt: Bei der Wahl [[Hans-Ulrich Klose]]s zum Fraktionsvorsitzenden verlor er sein Amt als stellvertretender Vorsitzender der Fraktion; auf dem Mannheimer Parteitag der SPD im vergangenen Herbst schaffte er den Sprung in den Parteivorstand auch im zweiten Wahlgang nicht mehr."<ref>Gaschke, Susanne: ''[https://www.zeit.de/1996/21/Schafft_es_der_Moralist_/komplettansicht Schafft es der Moralist?]'', DIE ZEIT, 17.5.1996</ref></blockquote> | |||
Nach 25 Jahren als immer direkt gewählter Abgeordneter und "auch in Zeiten des Niedergangs ein sicherer Über-fünfzig-Prozent-Kandidat, Moralist, Nervensäge, Steuererklärungsoffenleger, brillanter Redner, kluger und [bei der Kieler Bevölkerung] überaus beliebter Politiker"<ref>Gaschke, Susanne: ''[https://www.zeit.de/1996/21/Schafft_es_der_Moralist_/komplettansicht Schafft es der Moralist?]'', DIE ZEIT, 17.5.1996</ref> war er somit ein fast idealer Kandidat. Die Opposition konnte mit keinen ähnlich wirkungsvollen KandidatInnen aufwarten. Norbert Gansel entschied daher die Wahl am [[26. Mai]] [[1997]] mit einem eindrucksvollen Ergebnis für sich (über 60% der Stimmen, wie er immer wieder betonte - allerdings bei einer Wahlbeteiligung von weit unter 50%). Als Abgeordneter beerbte ihn [[Hans-Peter Bartels]] in der [[Bundestagswahl 1998]]. | |||
In Norbert Gansels Amtszeit fiel unter anderem die Entwicklung der Hörn einschließlich der Errichtung der neuartigen "Dreifeld-Zug-Klapp-Brücke" zwischen Bahnhofskai und Gaarden. Der Verkauf der Ostseehalle, der Kieler Wohnungsbaugesellschaft sowie der Teilverkauf der Stadtwerke Kiel dienten der Sanierung des städtischen Haushalts, der aber nur kurzfristig gelang. Dagegen verbesserte Norbert Gansel nachhaltig das Verhältnis der Stadt zur Bundeswehr und zur Universität. Mit der (nicht von Erfolg gekrönten) Olympiabewerbung für [[2012]] rückte er Kiels Image als internationale Segelstadt wieder in den Blick.<ref>kiel.de: [http://kiel.de/rathaus/_meldungen/_meldung.php?id=51041 ''Kiel gratuliert: Alt-Oberbürgermeister Norbert Gansel wird 75''], 570/3. August 2015/ang</ref> | |||
Während seiner Amtszeit geriet er zunehmend in - auch öffentlich ausgetragenen - Gegensatz zu Teilen der [[Kreisverband Kiel - Ratsfraktion|SPD-Ratsfraktion]] und auch zu hauptamtlichen Stadträten. Dies mag dazu beigetragen haben, dass ihm eine CDU-Bewerberin folgte, die sich gegen den SPD-Kandidaten [[Jürgen Fenske]] durchsetzte. | |||
Norbert Gansel blieb bis [[2003]] im Amt und stellte sich aus Altersgründen nicht zur Wiederwahl. | Norbert Gansel blieb bis [[2003]] im Amt und stellte sich aus Altersgründen nicht zur Wiederwahl. | ||
== Ehrungen == | Viele seiner Leistungen, die in der [[Abschiedsrede für Norbert Gansel als Oberbürgermeister von Kiel|Abschiedsrede]] (vermutlich von [[Cathy Kietzer]]) in der Ratsversammlung gewürdigt wurden, werden in der Rückschau nach der Abwendung der SPD von neoliberalen Ideen mittlerweile deutlich kritischer betrachtet. | ||
*Der Zeichner Volker Sponholz | |||
*[[2003]] Ernennung zum Ehrenbürger der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel | ==Ehrungen== | ||
*[[2013]] Benennung eines Hörsaales in der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel nach dem ehemaligen Absolventen | [[Datei:Die tollkühnen Abenteuer von Norbert Gans.jpeg|thumb|left|180px|Titelbild des Buches mit den Comics über Norbert Gansel]] | ||
*Der Zeichner Volker Sponholz persiflierte Norbert Gansel während seiner Amtszeit als Oberbürgermeister in der Comic-Figur "Norbert Gans". Die Comics erschienen [[2003]] als Buch unter dem Titel ''Die tollkühnen Abenteuer von Norbert Gans'', parallel zur Ausstellung vom [[7. November]] [[2003]] - [[11. Januar]] [[2004]] mit den Comics im Kieler Stadtmuseum Warleberger Hof. | |||
*[[2003]] Ernennung zum Ehrenbürger der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. | |||
*[[2013]] (oder Juli 2012) Benennung eines Hörsaales in der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel nach dem ehemaligen Absolventen. | |||
==Veröffentlichungen== | |||
*''Überwindet den Kapitalismus oder Was wollen die Jungsozialisten?'' (Reinbek bei Hamburg 1971, als Hrsg.) | |||
*''Politische Praxis und Politische Wissenschaft. Persönliche Anmerkungen''. In: [[Wilhelm Knelangen|Knelangen, Wilhelm]]/Stein, Tine (Hrsg.): ''Kontinuität und Kontroverse. Die Geschichte der Politikwissenschaft an der Universität Kiel'' (Essen 2013), S. 67–92, ISBN 978-3-8375-0763-8 | |||
*Die Mitwirkung an einer Biografie lehnt er ausdrücklich ab. | |||
== | == Zitate == | ||
* | * "Weil ich oft der Jüngste war, ist es mir schwer gefallen, zu begreifen, daß man nicht nur älter, sondern auch alt wird. Spätestens mit 45 muß man endgültig erwachsen werden.“<ref>''Eckart Kuhlwein - Engagierter Kämpfer für die Bildung'', in: WIR, 3/1986, Stormarn Ausgabe.</ref> | ||
== Links == | ==Literatur & Links== | ||
*[ | *[[Susanne Gaschke|Gaschke, Susanne]]: ''[https://www.zeit.de/1996/21/Schafft_es_der_Moralist_/komplettansicht Schafft es der Moralist?]'', DIE ZEIT, 17.5.1996 | ||
*[ | *{{LIS|2638}} | ||
*{{Wikipedia}} | |||
*[http://webarchiv.bundestag.de/archive/2007/0206/mdb/mdb13/bio/G/ganseno0.html Biografie beim Dt. Bundestag] | |||
== | === Archive === | ||
* Archiv der Sozialen Demokratie: Signaturkürzel 1/NGAA - Korrespondenz, Material über Jusos, Material über Ausschußarbeit, u.a. Sicherheits- und Außenpolitik, Verteidigungsausschuß, Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, Material als Mitglied des Deutschen Bundestages, Material SPD | |||
== Einzelnachweise == | |||
<references /> | <references /> | ||
{{Navigationsleiste Kreisvorsitzende Kiel}} | {{Navigationsleiste Kreisvorsitzende Kiel}} | ||
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[[Kategorie:OberbürgermeisterIn Kiel]] | [[Kategorie:OberbürgermeisterIn Kiel]] | ||
[[Kategorie:Kreisverband Kiel]] | [[Kategorie:Kreisverband Kiel]] | ||
[[Kategorie:Landesvorstand 1971-1973]] |
Aktuelle Version vom 24. Februar 2024, 21:54 Uhr
Norbert Gansel |
Norbert Tronje Gansel, * 5. August 1940 in Kiel; Jurist, Bundestagsabgeordneter, erster direkt gewählter Kieler Oberbürgermeister. Mitglied der SPD seit 1965.
Leben & Beruf
Norbert Gansel wuchs im Kieler Stadtteil Wik auf; sein Vater gehörte der Wehrmacht an. Nach dem Abitur an der Hebbelschule leistete er ab 1960 bei der Bundesmarine seinen Wehrdienst, den er als Leutnant zur See der Reserve beendete. Von 1962 bis 1969 studierte er Geschichte, Politikwissenschaft, Rechts- und Staatswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und war von 1966 bis 1969 Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Von 1963 bis 1966 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft bei Prof. Michael Freund. 1973 legte er sein zweites juristisches Staatsexamen ab.
Er ist oder war Mitglied im Postsportverein, wo er 1958 Deutscher Meister im Luftgewehrschießen wurde[1], in der Gewerkschaft ÖTV (später verdi), in der Arbeiterwohlfahrt (AWO), im Vorstand der "Atlantikbrücke" und im Kuratorium des Leo-Baeck-Instituts. Von 2004 bis 2009 hatte er einen Lehrauftrag an seinem alten Institut (jetzt Institut für Sozialwissenschaften) an der CAU.
Schon bei seiner Verabschiedung als OB hieß es, "der Privatmann Norbert Gansel [ist] weitgehend, auch den Kielern, ein Unbekannter geblieben. Er hat es geschafft, seine Amtstätigkeit vom Privatleben zu trennen. [...] Nur enge Freunde versichern glaubhaft, dass Norbert ein sehr familiärer Mensch ist. Neben Familie, Haus, Garten, Marine heißt sein Hobby KIEL."[2]
Mit seiner Frau Lesley Gansel, geb. Nicholson, lebt er in einem denkmalgeschützten Bauernhaus in Kiel-Meimersdorf. Das Ehepaar hat eine Tochter.[3]
Partei & Politik
Nach eigenen Angaben trat Norbert Gansel am Abend der Bundestagswahl 1965 in die SPD ein[4], nachdem ein Kommilitone auf seine trotzige Aussage, nach der unverdienten Niederlage des tollen Kandidaten Willy Brandt müsse man nun eigentlich erst recht SPD-Mitglied werden, ein Beitrittsformular aus der Jackentasche gezogen hatte.[5] Seitdem ist er Mitglied im Kreisverband Kiel.
1967 wurde er stellvertretender Juso-Landesvorsitzender, 1969 stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungsozialisten. Auf der Bundeskonferenz in Bremen im Dezember 1970 bewarb er sich um das Amt des Bundesvorsitzenden, unterlag jedoch gegen Karsten Voigt.
Auch auf dem SPD-Parteitag in Saarbrücken im Mai 1970 hatte er sich nicht durchsetzen können - er war für den stellvertretenden Parteivorsitz gegen Helmut Schmidt angetreten, hatte jedoch nur 65 der 321 Delegierten von sich überzeugen können.[6]
Ab 1968 war er Mitglied, 1986 bis 1991 Vorsitzender des Bundesparteirates, von 1991 bis 1996 Mitglied im Parteivorstand.
Bundestag
Von 1972 bis 1997 war er Mitglied des Bundestages, jeweils direkt gewählt für den Wahlkreis 6 (später 5, Kiel). Es heißt, er sei der letzte politische "Zögling" des 75-jährigen Carlo Schmid gewesen, den er auf dem SPD-Parteitag im November 1971 eher zufällig kennenlernte und mit dem er später eng befreundet war. Im Wahlkampf 1972 sprach Carlo Schmid, der Wahlkämpfe verabscheute, für ihn auf einer Wahlkundgebung in Kiel.[7]
Im Laufe der Zeit bekleidete er u.a. folgende Funktionen:
- 1972-1980 Mitglied im Ausschuß für Arbeit und Soziales;
- 1980-1997 Mitglied im Auswärtigen Ausschuß, seit 1994 stellvertretender Vorsitzender;
- 1983-1987 Sprecher der SPD in der Nordatlantischen Versammlung und in der Versammlung der Westeuropäischen Union;
- 1986-1990 Obmann der Bundestagsfraktion im U-Boot-Untersuchungsausschuß;
- 1991 stellvertretender Vorsitzender, dann Vorsitzender des Arbeitskreises I (Außen- und Sicherheitspolitik, Europa- und Entwicklungspolitik) der Bundestagsfraktion
"Gansel ist unbequem, weil er intellektuell aufrichtig ist. Es ficht ihn nicht an, seine Position mit Argumenten der Vernunft zu vertreten, selbst wenn ein Saal voller Delegierter sich gegen ihn stellt: Fast allein stimmte er auf einem Landesparteitag für die Nachrüstung[8]; er kämpfte für die Petersberger Beschlüsse seiner Partei zum Asylrecht und für eine Bewegung der SPD in der Blauhelmfrage."[9]
Es dürfte ihm jedoch bewusst gewesen sein, dass es nicht zuletzt diese Alleingänge waren, die ihm Aufmerksamkeit und dauerhafte Bekanntheit sicherten.
Der "gläserne Abgeordnete"
In seiner Zeit im Bundestag setzte sich Norbert Gansel immer wieder für Transparenz bei den Abgeordnetenbezügen und Nebeneinkommen ein. Er selbst ging mit gutem Beispiel voran:
"Einmal jährlich schaltete Gansel eine halbseitige Anzeige in der lokalen Zeitung und listete Einnahmen, Ausgaben und den Steuerbescheid auf. Selbst die Finanzierung seines Hauses wie sämtliche Kontostände legte Gansel offen. Später legte er all diese Auskünfte dem Parteitag der Kieler SPD vor und verschickte sie auf Wunsch."[10]
Seine Nachfolger Hans-Peter Bartels und Mathias Stein hielten bzw. halten es ähnlich.
Nach dem "Diäten-Urteil"[11][12] des Bundesverfassungsgerichts wurde 1975 neu über die Bezahlung von Abgeordneten diskutiert. Statt steuerfreier 3850 DM sollten sie versteuerte 7500 DM pro Monat bekommen. Norbert Gansel protestierte unter anderem gegen eine steuerfreie "Amtsausstattung", für deren Verwendung keine Überprüfung vorgesehen war:
"Es ist schwierig, politisch für mehr Einkommensgerechtigkeit einzutreten, wenn diejenigen, die sie durchsetzen wollen, sich Privilegien verschaffen."[13]
1976 schlug er vor, die Abgeordnetendiäten in Zukunft jährlich nur um den Prozentsatz zu erhöhen, um den auch die Renten aus der Sozialversicherung stiegen:
"Draußen bin ich dafür bejubelt worden, drinnen wäre ich fast gelyncht worden; für einen Abgeordneten keine glückliche Position, der ja nicht nur draußen gewählt werden will, sondern drinnen auch etwas bewirken will."[14]
Er versuchte auch durchzusetzen, dass Abgeordneten auf Inlandsflügen nur noch Economy-Class zustehen sollte:
"[Er] stieß sich an einem "peinlichen Privileg" für Bonner Abgeordnete und bat Bundestagspräsidentin Annemarie Renger, zu überprüfen, ob die Parlamentarier im innerdeutschen Flugverkehr nicht besser Touristenklasse statt 1. Klasse fliegen sollten. Die Mehrkosten für die Nobelflüge der Volksvertreter, schätzt Gansel, würden sich auf rund eine Million Mark pro Jahr belaufen. Doch von dem Sparvorschlag hielt die Präsidentin nichts. 'In analoger Anwendung' des Diätengesetzes, so beschied sie den Linksparlamentarier, 'besteht auch bei Inlandsflügen ein Anspruch auf die Benutzung der 1. Klasse.' Gansel kann dem Rengerschen Analogie-Schluß nichts abgewinnen: 'Das heißt doch wohl: Ausland im Sinne des Diäten-Gesetzes ist für Abgeordnete auch Inland.'[15]
Transparenz von Wahlen
Demokratische Transparenz verlangte Norbert Gansel auch für die Wahl der Regierungschefs in Bund und Ländern. Nachdem Ernst Albrecht in Niedersachsen offenbar mit Hilfe von Überläufern aus dem sozialliberalen Lager zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, setzte er sich für die Aufhebung der geheimen Wahl ein und bezog sich dabei auch auf das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt von 1972.
"Was Bonn [1972] durchgemacht hat, wird heute [1976] in Hannover durchlitten: die Spekulation auf Überläufer, der Triumph der Feigheit im Parlament, die große Stunde der Denunzianten in den Fraktionen, der provozierte Bruch in der Koalition, die drohende Regierungsunfähigkeit."[16]
Unmittelbar vor der Bundeskanzlerwahl 1994 nahm er seine Forderung noch einmal auf.[17] Er konnte nicht voraussehen, dass auch der schleswig-holsteinische Landtag sich nach der Landtagswahl 2005 in dieser Situation wiederfinden sollte.
"Schubladenaffäre"
Im Rahmen der Aufklärung der "Schubladenaffäre" geriet er in Konflikt mit Björn Engholm und der Landesspitze, da er frühzeitig forderte, dass ungeachtet der Auswirkungen sämtliches eigenes Wissen rückhaltlos benannt werden müsse.
"Gert Börnsen hat ihm nicht vergessen, daß er an seinem Sturz als Vorsitzender der Landtagsfraktion beteiligt war; etliche verübeln Gansel seine Rolle als konsequenter 'Aufklärer' in der Schubladenaffäre."[18]
1991 grenzte er sich noch einmal von Björn Engholm ab:
"Wir sind ganz andere Typen. Der Unterschied zwischen uns ist so groß: Der eine kommt aus Lübeck und der andere kommt aus Kiel. Lübeck ist die feine Hansestadt und Kiel ist etwas - na, wie soll ich sagen - ein bisschen proletarisch zusammengewürfelt; wir haben keine Ahnengalerien, sondern Kiel ist eine Stadt, die mit der Marine übrigens groß geworden [ist]. Wir Kieler sind ein Mischmasch [...]. [Von meinen Eltern] hab ich den Dickschädel geerbt, ich hab eine andere Art, mich durchzusetzen, als Björn Engholm."[19]
Als Björn Engholm 1993 als Ministerpräsident zurücktrat, bekundete Norbert Gansel Interesse an dessen Nachfolge. Der Landesvorstand entschied sich für Heide Simonis als erste Frau als Ministerpräsidentin in der Geschichte der Bundesrepublik.[20]
Weitere Aktivitäten
Schon vor 1977 plante er, zusammen mit Henning Scherf, ein Buch über die "Machtverfilzung" in der SPD zu schreiben, d.h. über die damals durchaus üblichen Mehrfachmandate und Ämterhäufungen. Davon nahmen sie Abstand.
"'Wir hätten uns', entschuldigt sich Scherf, 'dann den Vorwurf der Illoyalität eingeheimst.'"[21]
DER SPIEGEL berichtete auch - in einer Serie zum 25. Jahrestag des Mauerfalls - dass die "kluge und kämpferische Rede", die Ibrahim Böhme, neu gewählter Vorsitzender der DDR-SPD, auf dem Parteitag in Leipzig am 24. Februar 1990 hielt, aus Norbert Gansels Feder geflossen sei.[22]
1995 stellte er eine Anfrage an die Bundestagsverwaltung, wo er sein Elektroauto "Golf Citystromer", das ihm VW für drei Monate zur Verfügung gestellt hatte, aufladen könne. Ihm wurde geantwortet, es müsse wohl ein Zwischenzähler eingebaut werden, damit man ihm die Stromkosten in Rechnung stellen könne. Darauf verzichtete er.[23]
Oberbürgermeister
Am 17. Juni 1997 wurde Norbert Gansel erster direkt gewählter Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Kiel.
In seiner Kandidatur kamen zwei Interessen zusammen: Die SPD musste, nachdem Otto Kelling mit ihren Stimmen abgewählt worden war, für die Neuwahl, die nach der Abschaffung der Magistratsverfassung zum erstenmal eine Direktwahl sein würde, einen bekannten und populären Kandidaten finden, um erfolgreich zu sein. Norbert Gansels Situation als Abgeordneter war zu dieser Zeit schwierig:
"In Bonn haben die Genossen den moralischen Rigoristen Gansel in eine Sackgasse gedrängelt: Bei der Wahl Hans-Ulrich Kloses zum Fraktionsvorsitzenden verlor er sein Amt als stellvertretender Vorsitzender der Fraktion; auf dem Mannheimer Parteitag der SPD im vergangenen Herbst schaffte er den Sprung in den Parteivorstand auch im zweiten Wahlgang nicht mehr."[24]
Nach 25 Jahren als immer direkt gewählter Abgeordneter und "auch in Zeiten des Niedergangs ein sicherer Über-fünfzig-Prozent-Kandidat, Moralist, Nervensäge, Steuererklärungsoffenleger, brillanter Redner, kluger und [bei der Kieler Bevölkerung] überaus beliebter Politiker"[25] war er somit ein fast idealer Kandidat. Die Opposition konnte mit keinen ähnlich wirkungsvollen KandidatInnen aufwarten. Norbert Gansel entschied daher die Wahl am 26. Mai 1997 mit einem eindrucksvollen Ergebnis für sich (über 60% der Stimmen, wie er immer wieder betonte - allerdings bei einer Wahlbeteiligung von weit unter 50%). Als Abgeordneter beerbte ihn Hans-Peter Bartels in der Bundestagswahl 1998.
In Norbert Gansels Amtszeit fiel unter anderem die Entwicklung der Hörn einschließlich der Errichtung der neuartigen "Dreifeld-Zug-Klapp-Brücke" zwischen Bahnhofskai und Gaarden. Der Verkauf der Ostseehalle, der Kieler Wohnungsbaugesellschaft sowie der Teilverkauf der Stadtwerke Kiel dienten der Sanierung des städtischen Haushalts, der aber nur kurzfristig gelang. Dagegen verbesserte Norbert Gansel nachhaltig das Verhältnis der Stadt zur Bundeswehr und zur Universität. Mit der (nicht von Erfolg gekrönten) Olympiabewerbung für 2012 rückte er Kiels Image als internationale Segelstadt wieder in den Blick.[26]
Während seiner Amtszeit geriet er zunehmend in - auch öffentlich ausgetragenen - Gegensatz zu Teilen der SPD-Ratsfraktion und auch zu hauptamtlichen Stadträten. Dies mag dazu beigetragen haben, dass ihm eine CDU-Bewerberin folgte, die sich gegen den SPD-Kandidaten Jürgen Fenske durchsetzte.
Norbert Gansel blieb bis 2003 im Amt und stellte sich aus Altersgründen nicht zur Wiederwahl.
Viele seiner Leistungen, die in der Abschiedsrede (vermutlich von Cathy Kietzer) in der Ratsversammlung gewürdigt wurden, werden in der Rückschau nach der Abwendung der SPD von neoliberalen Ideen mittlerweile deutlich kritischer betrachtet.
Ehrungen
- Der Zeichner Volker Sponholz persiflierte Norbert Gansel während seiner Amtszeit als Oberbürgermeister in der Comic-Figur "Norbert Gans". Die Comics erschienen 2003 als Buch unter dem Titel Die tollkühnen Abenteuer von Norbert Gans, parallel zur Ausstellung vom 7. November 2003 - 11. Januar 2004 mit den Comics im Kieler Stadtmuseum Warleberger Hof.
- 2003 Ernennung zum Ehrenbürger der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
- 2013 (oder Juli 2012) Benennung eines Hörsaales in der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel nach dem ehemaligen Absolventen.
Veröffentlichungen
- Überwindet den Kapitalismus oder Was wollen die Jungsozialisten? (Reinbek bei Hamburg 1971, als Hrsg.)
- Politische Praxis und Politische Wissenschaft. Persönliche Anmerkungen. In: Knelangen, Wilhelm/Stein, Tine (Hrsg.): Kontinuität und Kontroverse. Die Geschichte der Politikwissenschaft an der Universität Kiel (Essen 2013), S. 67–92, ISBN 978-3-8375-0763-8
- Die Mitwirkung an einer Biografie lehnt er ausdrücklich ab.
Zitate
- "Weil ich oft der Jüngste war, ist es mir schwer gefallen, zu begreifen, daß man nicht nur älter, sondern auch alt wird. Spätestens mit 45 muß man endgültig erwachsen werden.“[27]
Literatur & Links
- Gaschke, Susanne: Schafft es der Moralist?, DIE ZEIT, 17.5.1996
- Landtagsinformationssystem: Norbert Gansel
- Wikipedia: Norbert Gansel
- Biografie beim Dt. Bundestag
Archive
- Archiv der Sozialen Demokratie: Signaturkürzel 1/NGAA - Korrespondenz, Material über Jusos, Material über Ausschußarbeit, u.a. Sicherheits- und Außenpolitik, Verteidigungsausschuß, Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, Material als Mitglied des Deutschen Bundestages, Material SPD
Einzelnachweise
- ↑ “Postsportverein feiert heute 75. Geburtstag“, Kieler Express 28.9.2002
- ↑ Vgl. Cathy Kietzer: Abschiedsrede für Norbert Gansel als Oberbürgermeister von Kiel
- ↑ kiel.de Kiel gratuliert: Alt-Oberbürgermeister Norbert Gansel wird 75, 570/3. August 2015/ang
- ↑ Das wäre der 19. September gewesen; im Landtagsinformationssystem gibt Norbert Gansel "November 1965" an.
- ↑ Podiumsgespräch bei der "Willy-Brandt-Matinee" des Arbeitskreises Geschichte der Kieler SPD, 30.11.2013
- ↑ Weber, Petra: Carlo Schmid 1896-1979. Eine Biographie (Frankfurt/Main 1998), S. 751
- ↑ Weber, Petra: Carlo Schmid 1896-1979. Eine Biographie (Frankfurt/Main 1998), S. 752, 755
- ↑ Dies dürfte in Harrislee gewesen sein, wo ein "Beschluss zur Friedenspolitik (1981)" gefasst wurde, der sich gegen die Nachrüstung stellte.
- ↑ Gaschke, Susanne: Schafft es der Moralist?, DIE ZEIT, 17.5.1996
- ↑ Daniel Friedrich Sturm: Deutschlands gläsernste Abgeordnete, Die Welt, 7.7.2007
- ↑ Bundesverfassungsgericht BVerfGE 40, 296
- ↑ Gert Flegelskamp: Chronik der Beschlüsse des Bundestages als Folge des Diäten-Urteils, erstellt 17.6.2008, abgerufen 28.7.2020
- ↑ Bonner Gehaltserhöhungen, DER SPIEGEL, 29.11.1976
- ↑ Plenarprotokoll des Bundestages, 55. Sitzung, 21.9.1995
- ↑ Personalien, DER SPIEGEL, 12.4.1976
- ↑ Norbert Gansel: Schluss mit der Geheimniskrämerei, Stern, 22.1.1976, S. 20.
- ↑ Norbert Gansel: Sechs Anmerkungen zur morgigen Kanzlerwahl. Ein Plädoyer gegen verdeckte Stimmzettel und für offene Kontroversen, Sozialdemokratischer Pressedienst, 14.11.1994, S. 1 f.
- ↑ Gaschke, Susanne: Schafft es der Moralist?, DIE ZEIT, 17.5.1996
- ↑ So 1991 in der Talkshow "0137" im Interview mit Roger Willemsen.
- ↑ Kuhlwein, Eckart: Links, dickschädelig und frei - 30 Jahre im SPD-Vorstand in Schleswig-Holstein. tredition GmbH (2010) ISBN 978-3-86850-661-7, Seite 193
- ↑ Ganz weiche Stelle, DER SPIEGEL, 3.1.1977
- ↑ DER SPIEGEL, 27.10.2014
- ↑ Personalien: Norbert Gansel, DER SPIEGEL, 13.11.1995
- ↑ Gaschke, Susanne: Schafft es der Moralist?, DIE ZEIT, 17.5.1996
- ↑ Gaschke, Susanne: Schafft es der Moralist?, DIE ZEIT, 17.5.1996
- ↑ kiel.de: Kiel gratuliert: Alt-Oberbürgermeister Norbert Gansel wird 75, 570/3. August 2015/ang
- ↑ Eckart Kuhlwein - Engagierter Kämpfer für die Bildung, in: WIR, 3/1986, Stormarn Ausgabe.
Vorsitzende: Karl Ratz (1945-1958) | Hans Schröder (1958-1963) | Hermann Köster (1963-1969) | Karl Heinz Luckhardt (1969-1975) | Claus Möller (1975-1977) | Hartmut Lippe (1977-1981) | Norbert Gansel (1981-1983) | Claus Möller (1983-1987) | Peter Andersen (1987-1991) | Rolf Selzer (1991-1995) | Rolf Fischer (1995-2000) | Andy Mitterer (2000-2004) | Rolf Fischer (2004-2013) | Jürgen Weber (2013-2018) | Gesine Stück (seit 2018)
Andreas Gayk (1946-1954) | Hans Müthling (1955-1965) | Günther Bantzer (1965-1980) | Karl Heinz Luckhardt (1980-1992) | Otto Kelling (1992-1996) | Norbert Gansel (1997-2003) | Torsten Albig (2009-2012) | Susanne Gaschke (2012-2013) | Ulf Kämpfer (seit 2014)